Hungerskrise im Nahostkrieg: Sandige Fladen in Gaza

Ibrahim Charabischi wohnt mit Familie in Gaza-Stadt – und hungert. „Manchmal“, sagt er, „wünsche ich mir, dass uns jemand den Gnadenschuss gibt.“

Eine Mutter mit ihrer Tochter geht durch die zerstörte Stadt Gaza

Sorgt sich vor allem um seine Kinder: Ibrahim Charabischi Foto: privat

KAIRO taz | „Zwischen der Hoffnung, die in unseren Herzen wohnt, und unseren Träumen, die mit unseren Gedanken fliehen, herrscht heute Dunkelheit. Sie hat alles Schöne ausradiert. Die Träume sind abgetaucht, an ihre Stelle sind Leid und Kummer getreten, zwischen den Verwundeten, den Toten, den Versehrten gibt es nur noch die Hoffnung zu überleben“. Das ist Auszug aus dem Tagebuch des Palästinensers Ibrahim Charabischi, der mit seiner schwangeren Frau Nasrin und drei Kindern im Alter von 4 bis 11 Jahren in Gaza-Stadt lebt.

Nasrin und die Kinder waren zwischenzeitlich mit ihrem Onkel nach Deir El-Balah geflohen. Ibrahim blieb in Gaza-Stadt, weil er seine Eltern nicht allein lassen wollte. Als der Onkel direkt neben Nasrin erschossen wurde, kam sie zurück nach Gaza-Stadt. Die Familie sei umsonst von einem Ort zum anderen geflohen, schreibt Ibrahim. „Es gibt keinen sicheren Ort im Gazastreifen.“

Mit Ibrahim zu telefonieren ist schwierig; selbst das Internet funktioniert nur sporadisch im Gazastreifen. Den Auszug aus seinem Tagebuch hat der Anwalt über WhatsApp geschickt. Am besten kommuniziert man mit ihm über Sprachnachrichten. Er hat eine gesendet, die 26 Minuten lang ist – 26 Minuten Beschreibung des Elends, das für viele Schicksale im nördlichen Gazastreifen steht.

„Es müsste einen anderen Ausdruck als katastrophal geben. Wir leben eine Mischung aus Angst, Hunger und Durst, gepaart mit totaler Erschöpfung“, sagt er. Seine Beschreibung gibt der Warnung des UN-Welternährungsprogramms vor einer unmittelbar bevorstehenden Hungersnot in Nord-Gaza einen persönlichen Kontext.

Kinder beim Essen

Essen in Gaza-Stadt. Es gibt Kartoffeln und Brot Foto: privat

Die ersten beiden Monate hätten sie gegessen, was im Haus gelagert oder noch zu kaufen war. Dann begannen sie, weniger Mahlzeiten zu servieren. Schließlich wurde die Menge der verbliebenen Mahlzeiten reduziert. „Unsere Mahlzeiten heute bestehen aus Kräutern und anderem Grün, wie wildem Mangold, manchmal ein paar Zitrusfrüchte. Das ist nicht wirklich nahrhaft, aber es gibt uns wenigstens das Gefühl, etwas zu essen“, erzählt er.

An anderen Tagen durchstreifen sie die Häuser, die zerstört und verlassen wurden, und suchen Essbares in den Küchen und Vorratskammern. „Manchmal finden wir etwas Mehl auf dem Boden, durchsetzt mit Sand. Daraus backen wir einen sandigen Brotfladen“, schildert Ibrahim. Um dorthin zu gehen, wo Hilfslieferungen aus der Luft abgeworfen werden, seien er und seine Familie zu erschöpft. „Ich habe nicht die Energie, mit zehntausenden anderen darum zu kämpfen, etwas abzubekommen“, sagt er. Manches werde dann später zu astronomischen Preisen angeboten. Statt umgerechnet 10 US-Dollar werde ein Sack Mehl schon einmal für 1.000 feilgeboten.

Schwanger und abgemagert

Der größte Schmerz des 33-Jährigen sind seine Kinder. „Wir geben ihnen die größeren Portionen, damit sie aufhören, vor Hunger zu schreien.“ Das hielten keine Eltern aus. „Manchmal schreien sie die ganze Nacht und ich mache mich auf die Suche, irgendetwas zu finden“, sagt er. „Manchmal wünsche ich mir, dass uns jemand den Gnadenschuss gibt, irgendein schneller Tod statt dieses langsame Verhungern.“

ein zerstörtes Haus

In diesem Haus in Gaza-Stadt lebt Familie Charabischi noch heute Foto: privat

Nasrin, die im letzten Drittel ihrer Schwangerschaft ist, sei abgemagert. Das letzte Mal sei sie vor sechs Monaten in einer Arztpraxis gewesen. Dann haben sie es aber vor kurzem doch noch geschafft, einige der notwendigen Untersuchungen machen zu lassen. „Die Ergebnisse sind schlecht“, lautete die Diagnose. Der Arzt verschrieb ihr Vitamin-, Calcium- und Eisen-Präparate, wohl wissend, dass nichts davon erhältlich ist. Das Beste, habe der Arzt gesagt, sei ohnehin eine angemessene Ernährung.

Medikamente sind auch ein Thema für Ibrahims Eltern, die bei ihm leben. Beide leiden unter Bluthochdruck und Diabetes. Zunächst hätten sie eine statt zwei Pillen am Tag genommen, heute gebe es vielleicht noch eine Tablette, wenn die Symptome zu stark würden. Inzwischen kann Ibrahim auch nichts mehr kaufen. Das Ersparte des Anwalts ist aufgebraucht. Neues Geld zu verdienen, sei praktisch unmöglich.

Auch Trinkwasser sei eine Herausforderung. Das Wasser aus dem Hahn sei wegen der Nähe zum Meer versalzen und aufgrund der zerstörten Infrastruktur mit Abwasser versetzt. Noch nicht einmal vor dem Krieg hätten sie es zum Kochen verwendet. Heute müsse er fünf Kilometer weit gehen, um einen Wasserkanister aus einem Brunnen zu füllen, der in der Nähe der Stellungen der israelischen Armee liege. Das sei gefährlich. Außerdem stinke das Wasser. „Es schwimmt allerlei Getier wie Würmer darin. Um es zu trinken, filtern wir es durch ein Stück Stoff“.

Ibrahims schlimmster Moment war, als er vor einigen Tagen doch zu einem der Orte ging, an dem Nahrungsmittel abgeworfen wurden. „Auf einen Mann neben mir wurde geschossen, wahrscheinlich von einem Scharfschützen. Ich stand hinter einer Betonsäule und rührte mich nicht vom Fleck, weil ich Angst hatte. Er verblutete, zitterte, bis er kein Lebenszeichen mehr von sich gab.“ Er habe ihn von seinem Versteck aus nur angestarrt. „Das verfolgt mich bis heute. Mein moralischer Kompass sagte mir, geh und rette ihn! Aber meine Angst hielt mich auf.“

Unicef warnt, Kinder in Gaza bräuchten dringend psychologische Hilfe, viele hätten Angstzustände. Auch Ibrahim erzählt, seine Kinder würden sich immer wieder vollnässen. Er beendet seine Sprachnachricht mit seiner größten Sorge: seinem vierjährigen Sohn. „Mit den Bombardierungen begann mein Sohn merkwürdige Geräusche zu machen, mit den Augen zu rollen und Grimassen zu schneiden. Sein Hirn schickt verwirrende Signale an seine Nerven. Er sitzt auf meinem Schoß und ich halte ihn fest an mich gedrückt, um seine Bewegungen zu kontrollieren. Ich fürchte, er verliert langsam seinen Verstand.“

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