Integration in Deutschland: Jeder Fünfte ist Migrant

Nie war die Zahl der in Deutschland lebenden Menschen mit Migrationshintergrund so hoch wie heute. Gut vorbereitet ist das Land jedoch nicht.

Einige Frauen mit und ohne Kopftuch

Junge Frauen warten auf hohe Politik. Hier im TIO (Treff- und Informationsort für MigrantInnen e.V.) Berlin, kurz vor der Ankunft des Regierenden Bürgermeisters Foto: dpa

BERLIN taz | Die Zahl der Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland erreicht ein neues Rekordniveau. Das meldete das Statistische Bundesamt am Freitag. 17,1 Millionen Menschen mit ausländischen Wurzeln oder ausländischem Pass leben in der Bundesrepublik – das sind so viele, wie die DDR am Ende ihrer Laufzeit als Bürger verzeichnet.

Mehr als jeder fünfte Einwohner ist also Miggi, analog zum Ossi oder Wessi. Einen Tag zuvor erschien eine andere Statistik: der jährliche Bildungsbericht der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Die OECD legt Bildungsindikatoren und Daten aus 38 Ländern nebeneinander und veröffentlicht diese auf über 600 Seiten in einem Bericht, welcher etwas verniedlichend „Bildung auf einen Blick“ heißt.

Weil es in der Natur von Statistiken liegt, dass sie der Echtzeit hinterher hängen, sind weder beim Statistischen Bundesamt noch bei der OECD die Menschen erfasst, welche im letzten Jahr als Flüchtlinge kamen. Sie werden erst in ein, zwei Jahren in den Statistiken auftauchen, dann aber vor allem in den Bildungsstatistiken, denn 30 Prozent der in Deutschland gestellten Asylanträge entfallen gegenwärtig auf Kinder und Jugendliche unter 18 Jahre.

Wie gut wird ihre Integration ins Bildungssystem gelingen? Um diese Frage zu beantworten, hilft der Bildungsbericht der OECD weiter, zeigt er doch, wie Integration in den letzten Jahren verlief und von welchen Ländern Deutschland lernen kann. Als er den Bericht am Donnerstag zusammen mit Bundesbildungsministerin Johanna Wanka (CDU) vorstellte, lobte OECD-Bildungskoordinator Andreas Schleicher zunächst pflichtschuldig die „im internationalen Vergleich herausragende Stärke“ des deutschen Bildungssystems, nämlich den reibungslosen Übergang von der Ausbildung in den Beruf, um dann recht schnell auf die größte Schwäche zu sprechen zu kommen: die ungerechte Verteilung von Bildungschancen.

Die Herkunft fällt vor allem dann ins Gewicht, wenn das Merkmal „Migrationshintergrund“ mit anderen Faktoren einhergeht, etwa einem Elternhaus mit niedriger Bildung.

Obwohl auch sie von dem Trend zu höher Bildung profitieren, sind Migranten im Bildungssystem noch immer deutlich benachteiligt. Die Herkunft fällt vor allem dann ins Gewicht, wenn das Merkmal „Migrationshintergrund“ mit anderen Faktoren einhergeht, etwa einem Elternhaus mit niedriger Bildung. Unter den Mittzwanzigern bis Mittvierzigern, deren eingewanderte Eltern weder Berufsabschluss noch Abitur haben, haben nur 7 Prozent einen Abschluss auf Hochschulniveau erreicht, während fast die Hälfte auf dem gleichen Bildungslevel wie ihre Eltern verharrt.

Zum Vergleich: 20 Prozent der 25- bis 45jährigen aus Elternhäusern mit niedrigem Bildungsstand, aber deutschem Stammbaum haben einen Hochschulabschluss, nur 15 Prozent bleiben wie ihre Eltern ohne Abitur und Berufsausbildung.

Und wie gut ist das Bildungssystem aufgestellt?

Menschen mit Migrationshintergrund sind also überproportional häufig in der Gruppe jener vertreten, die als gering qualifiziert gelten und deren Berufe als Hilfs- oder Zuarbeiter es kaum noch gibt. Ein Anteil von 13 Prozent der Erwerbsfähigen, der über die Generationen nicht kleiner wurde. Doch da sind ja noch das Duale Ausbildungssystem und die Maßnahmen des Übergangssystems, die einen Gutteil der gering Qualifizierten auffangen. Die Arbeitslosigkeit unter den 15 bis 29jährigen ist in Deutschland eine der geringsten im OECD-Vergleich.

Wie gut oder schlecht ist Deutschland also vorbereitet auf die Integration der zu uns geflüchteten neuen Mitbürger? „Die berufliche Ausbildung ist die große Stärke des deutschen Bildungssystems, doch sie kommt spät“, meint OECD Bildungsdirektor Schleicher gegenüber der taz und betont: „Früh anzufangen ist von nicht zu unterschätzender Bedeutung.“

Vor diesem Hintergrund sieht der OECD-Mann die Ressourcen in Deutschland falsch verteilt: „Während Deutschland überdurchschnittlich viel in Hochschulen und in den Bereich der höheren Allgemeinbildung investiert, sind die Ausgaben im Bereich der Sekundarstufe I und im Primarbereich in einem reichen Land wie Deutschland unterdurchschnittlich.“ Das sei durch nichts zu rechtfertigen. Oberflächlich betrachtet seien die Zahlen in der frühkindlichen Bildung zwar hervorragend – über 90 Prozent der drei- und vierjährigen Kinder besucht in Deutschland eine Kita. „Doch die Qualität der Betreuung und die Bezahlung der Fachkräfte sind oft unzureichend.“

Rabe hat den Durchblick

Auch den Ausbau von Ganztagsschulen hält Schleicher für entschieden – hier könne dem Lernen Zeit gegeben und Defizite ausgeglichen werden. Das ist Wasser auf die Mühlen von Sozialdemokraten wie Ties Rabe. Rabe leitet die Hamburger Behörde für Schule und Berufsbildung und vertritt bei der Vorstellung des Bildungsberichts seine Länderkollegen. „Der Kitaausbau ist zu ergänzen durch den Ausbau von Ganztagsschulen“, sagt er auch an die Adresse der Bundesbildungsministerin, die das einst milliardenschwere Ganztagsschulprogramm auf einen Restposten zusammengedampft hat. In Ganztagsschulen könnten Kinder auch sprachlich viel zeitintensiver gefördert werden: „Sprache hat für die Integration eine enorme Wirkung.“

Integrationsklassen oder Vorbereitungsklassen, die viele Bundesländer und auch Hamburg ausschließlich für geflüchtete Kinder eingerichtet haben, hält Schleicher dagegen für den falschen Weg. „Internationale Erfahrungen zeigen, dass Kinder viel schneller die Sprache eines Landes lernen, wenn sie in Regelklassen integriert werden.“ Voraussetzung sei allerdings, dass die Lehrerinnen und Lehrer darauf vorbereitet seien, Grundkenntnisse in der Sprachförderung hätten und einen personalisierten und differenzierten Unterricht anböten. Einen Weg, den Kanada erfolgreich gegangen sei.

Tausende demonstrieren gegen TTIP und CETA – selbst Trump, Le Pen und die AfD sind gegen Freihandel. Wie sich die Organisatoren der Proteste von den Rechten abgrenzen wollen, lesen Sie in der taz.am wochenende vom 17./18. September. Außerdem: Silke Burmester beschreibt, wie es ist, wenn das eigene Kind auszieht. Ingo Zamperoni erzählt im Interview, wie Amerikaner Hausschuhe finden. Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.

Eine in der Vorwoche veröffentlichte Studie des Sacherverständigenrats deutscher Stiftungen für Integration und Migration und des Mercator Instituts sieht Lehrkräfte aber nur unzureichend auf den Unterrichtsalltag vorbereitet. Es gebe zu wenige und zu wenig wirksame Angebote für die Arbeit mit sprachlich und kulturell vielfältigen Lerngruppen. Der Eindruck, den Marlis Tepe gewinnt, wenn sie mit Kolleginnen spricht, ist differenzierter. Tepe ist Vorsitzende der mitgliederstärksten Berufsvertretung, der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft.

Am Tag, als die OECD ihren Bildungsbericht veröffentlicht, kommt Tepe von einem Treffen mit Gewerkschaftsfunktionären aus ganz Deutschland. „Alle Bundesländer bieten Fortbildungen an, doch in unterschiedlichem Umfang. In einigen Ländern, etwa in Brandenburg, sind sie viel zu schnell ausgebucht.“ Nordrhein-Westfalen sei dagegen schon lange gut vorbereitet, hier müssten Lehramtsstudierende im Studium auch verpflichtende Module zu Deutsch als Zweitsprache und interkulturellen Kompetenzen belegen.

Besorgter ist Tepe aber über einen anderen Umstand: „Kollegen haben mir erzählt, dass noch tausende Kinder in Erstaufnahmeeinrichtungen untergebracht sind und seit Wochen nicht beschult werden.“ Wenn sich diese Bummelei der Politik nicht mal negativ auswirkt. Nicht nur statistisch.

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