Migration gegen Arbeitskräftemangel: Proaktiv für Einwanderung

Die Aufnahme von Menschen auf der Flucht ist längst keine rein humanitäre Sache mehr. Deutschlands Wirtschaft braucht die Immigration.

Eine Frau schreibrt in ein Heft

Integrationskurs in Velbert Foto: Uwe Möller/imago

Ja, Deutschland ist ein Einwanderungsland, das war vor ein paar Jahren und viel zu spät der zähneknirschende Satz, mit dem eine längst bestehende Realität politisch anerkannt wurde. Mittlerweile ist der Fokus ein anderer und die Dringlichkeit auch: Ja, Deutschland muss ein attraktives Einwanderungsland werden. Einwanderung, lange als eine hinzunehmende Tatsache gesehen, ist eine wirtschaftliche und gesellschaftliche Notwendigkeit geworden.

Das Problem ist: Der gegenwärtige politische Diskurs ist nicht auf der Höhe der Realität und der Zukunftsaussichten, es verliert sich in rhetorischen Unterbietungsanstrengungen einer Politik der „neuen Härte“. Diese Politik ist nicht nur aus humanitären Gründen unzulänglich – sie ist schlicht nicht im deutschen Interesse. In vielen Branchen der deutschen Wirtschaft herrscht seit Jahren ein massiver Mangel an qualifiziertem Fachpersonal, aber auch an gering- oder nichtqualifiziertem Personal in Sektoren wie Bau, Gastronomie oder Einzelhandel.

Und die Prognosen sind düster: Etwa ein Drittel aller Arbeitskräfte geht in den nächsten zehn Jahren in den Ruhestand, innerhalb der nächsten 15 Jahre etwa die Hälfte der Beschäftigten der öffentlichen Verwaltung. Das Altern der Boomer wird zu einer zentralen Bedrohung unserer Wirtschaft, unseres Wohlstands. Der Sachverständigenrat für wirtschaftliche Entwicklung macht klar: Es braucht eine Netto-Zuwanderung von 400.000 Menschen netto pro Jahr.

Was das konkret heißt: es müssen abzüglich der 1,1 Millionen Abwandernden 1,5 Millionen Menschen pro Jahr nach Deutschland kommen, um die Gesellschaft und den Wohlstand am Laufen zu halten.Aber wie soll man Deutschland attraktiv für Einwanderung und fit für das 21. Jahrhundert machen? Der Migrationsökonom Herbert Brücker hat vorgerechnet, dass bereits 2021 nahezu zwei Drittel der Schutzsuchenden, die 2015 nach Deutschland kamen, erwerbstätig waren.

Weniger Bürokratie, schnellere Sprachförderung

Wenn wir unsere Behörden auf Vordermann bringen, Barrieren für den Arbeitsmarktzugang abbauen, mehr Plätze in Bildungseinrichtungen schaffen, dann beschleunigen wir die Erwerbsbeteiligung von Schutzsuchenden. Durch Bildungspolitik speziell auch für Frauen, deren Erwerbsbeteiligung aufgrund von Care-Tätigkeiten noch ausbaufähig ist. Das gilt im Übrigen auch für nichtmigrantische Frauen.

Deutschland hat 2015 ein humanitäres Zeichen gesetzt und Schutzsuchenden zeitgleich den Weg in ein Leben in Beschäftigung geebnet. Fluchtmigration leistet Abhilfe am Arbeitsmarkt, humanitäre treffen wirtschaftliche Argumente. Das Neue an der Situation ist: Deutschland darf nicht den Abwehrmodus gegen Einwanderung wählen, weil es sich in einem Wettbewerb nicht nur um „die besten“ Köpfe, sondern um Einwanderung überhaupt befindet. Die neue Realität heißt Anwerbemodus.

Andere westliche Einwanderungsländer wie USA, Kanada, Australien und Großbritannien werben längst um Arbeitskräfte. Deutschland hinkt hinterher – und hat hier sprachbedingte Wettbewerbsnachteile. Es kann sich also nicht leisten, nur widerwillig Einwanderungsland sein, es muss proaktiv ein attraktives Einwanderungsland werden. Dafür braucht es ein parteiübergreifendes politisches Gamechanger-Narrativ, das nicht von Abschottung geprägt ist, sondern von Anwerbung, Aufnahme und Attraktivität.

Beunruhigend dabei ist, wie gering etwa Deutschlands Bleibeattraktivität ist – im interna­tio­nalen Vergleich von 53 Ländern landet Deutschland auf Platz 49. Wie werden wir Menschen halten können, die zu uns kommen? Weder Push- oder Pull-Faktor, sondern Stay-Faktor sollte der Anfang einer realpolitischen Neuorientierung der Einwanderungspolitik sein.

Zum Bleiben motivieren

Denn unsere Unattraktivität speist sich nicht nur aus Alltagsrassismus, sondern auch aus Abbau am Sozial- und Wohlfahrtsstaat – mangelnde Digitalisierung, unfreundliche bis überforderte Verwaltung und anachronistische Bürokratie. Wenn Schutzsuchende nach einigen Jahren Deutschland wieder verlassen, dann ist das, neben humanitären Verlusten, ein demografisch und wirtschaftlich nachhaltiger Verlust für uns. Statt mit einer echten Zeitenwende das inländische, migrantische Gold zu heben, verprellen wir es.

Die nationale Strategie „Attraktives Einwanderungsland“ muss infrastrukturell flankiert werden. Das erfordert eine vorausschauende Migrationspolitik und Migrationsverwaltung, sozial-ökologischen Immobilienbau, Digitalisierung, flächendeckende Integrationskurse, personelle und finanzielle Ausstattung der Kommunen, schnellen Arbeitsmarktzugang und ein zeitgemäßes Partizipationsgesetz, das politische Teilhabe ab dem ersten Tag in Deutschland fördert.

Die ehrenamtliche Flüchtlingshilfe im Sommer der Migration 2015 und nach Russlands Angriffskrieg war überwältigend. Beide historische Momente haben die Schlüsselrolle migrantischer Communities für das Ankommen von Geflüchteten in Deutschland unterstrichen. Sie gilt es für unsere Attraktivität als Einwanderungsland nachhaltig zu stärken. Unser moralisches Potenzial ist unstrittig, in der Migrationsverwaltung muss mit Infrastruktur und Ressourcen nachgelegt werden. Dafür braucht es ein entsprechendes Narrativ und politischen Willen.

Die Wirtschaft hat längst den Handlungsbedarf erkannt: Etwa 80 Prozent der Un­ter­neh­me­r:in­nen sehen den Standort Deutschland in Gefahr. Arbeitgeber-Präsident Rainer Dulger fordert offensiv eine wirksame Bekämpfung des Mangels und die Etablierung einer Willkommenskultur. Lange als Migrationsromantik abgetan, verschränken sich nun wirtschaftliche und humanitäre Positionen. Was wir brauchen, ist eine offensive Realpolitik für ein attraktives Einwanderungsland, die humanitäre und wirtschaftliche Potenziale von Migration verschränkt in den Blick nimmt.

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ist Politikwissenschaftler und Soziologe. Er leitet die Abteilung Integrations­forschung und Gesellschaftspolitik am Berliner Institut für empirische Integrations- und Migrationsforschung an der Humboldt-Universität zu Berlin.

ist Ökonom. Er ist Gastwissenschaftler am Berliner Institut für empirische Integrations- und Migrationsforschung der HU. Davor war er unter anderem Wirtschaftsberater bei der US-Mission in der Türkei.

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