SEK sucht Rentner: Deutsche wieder mobilisiert

lm Regionalverkehr von NRW wurde die RAF-Vergangenheit erfolgreich nachgestellt: Denunziation, Kopfgeld, Spezialeinsatzkräfte – alles war dabei.

Alte BKA-Fahndungsfotos, schwarz- weiß

BKA-Handouts, undatiert – aber brandaktuell Foto: BKA/picture alliance

Huch, ist das aufregend! Am Samstag ging die Polizei in Wuppertal auf Verbrecherjagd. Ein Augenzeuge hatte im Zug einen älteren Herrn gesehen, den er aus dem Fernsehen zu kennen glaubte: Ernst-Volker Staub, gesucht für Raubüberfalle und Beteiligung am RAF-Terror. Nach dem Notruf aus der Regionalbahn startete die große Maschinerie: Der Zugverkehr großzügig umgeleitet, Sondereinsatzkräfte aus ganz Nordrhein-Westfalen im Anmarsch, Beamte mit Helm und Maschinenpistolen auf den Bahnsteigen. „Dann ging auch noch das Licht im Zug aus“, zitiert die Bild eine Passagierin. „Es war eine bedrückende Stimmung.“

Endlich bekommen wir Spätgeborenen den Hauch einer Ahnung davon, wie es damals gewesen sein muss. Der Einsatz von Wuppertal als Reenactment der 1970er Jahre, als der Staat einmal zeigte, zu welchem Fahndungsaufwand er in der Lage ist. Die Polizei verteilte hunderttausendfach vervielfältigte Flugblätter und betrieb engmaschige Verkehrskontrollen; kaum ein Langhaariger blieb unbehelligt. In einem Waldstück wird nachts ein verdächtiges Auto gemeldet? Direkt mal die Häuser des anliegenden Dörfchens stürmen. Im „Deutschen Herbst“ 1977, so steht es in den Büchern, erreichten die Maßnahmen ihren Höhepunkt – als Reaktion auf den real existierenden und menschenverachtenden Terrorismus der Roten Armee Fraktion.

Das Schöne dagegen an der neuen polizeilichen Leistungsschau (neben der Tatsache, dass erneut die Jungen von damals im Visier sind, und wir Jungen und Mittelalten von heute entspannt zusehen dürfen): Einen so bitterernsten Antagonisten gibt es diesmal nicht. Der Peak des zeitgenössischen Linksterrorismus sind mit Hammern bewaffnete Antifas, danach kommt bis zu den Klimaklebern lange nichts – und sogar die haben sich von ihrer radikalsten Aktionsform mittlerweile verabschiedet.

Immerhin das haben sie wohl gemeinsam mit Staub (69) und den mit ihm gesuchten Burkhard Garweg (55) und Daniela Marie Luise Klette (65): Das seit Jahrzehnten untergetauchte Trio gehörte der dritten Generation der RAF an, ist nach Ansicht der Er­mitt­le­r*in­nen aber schon längst nicht mehr politisch aktiv. Nur zur Finanzierung ihres Lebensunterhalts hätten sie bis ins Jahr 2016 etliche Raubüberfälle begangen. Seit acht Jahren ist damit aber offenbar auch Schluss.

Wofür es noch reicht

r „Aktenzeichen XY“ immerhin reicht es. Die älteste True-Crime-Show der Welt zeigte am Mittwoch mal wieder verschwommene Überwachungsaufnahmen der Gesuchten. Über die ZDF-Sendung hatte in den späten 1960er Jahren Ulrike Meinhof – noch nicht als RAF-Gründerin, sondern als Konkret-Autorin – geschrieben, sie zeige, „inwieweit Kriminelle sich als Hassobjekte in Deutschland eignen und inwieweit Deutsche auf diese faschistische Manier mobilisierbar und gleichzeitig kontrollierbar“ seien. Zugespitzt formuliert, sicherlich. Der Fall Wuppertal deutet aber zumindest darauf hin, dass die Mobilisierung noch immer funktioniert: Drei Tage nach der Ausstrahlung kam der Anruf aus der Regionalbahn.

Dazu beigetragen haben sicherlich auch die ausgelobten 150.000 Euro Belohnung für entscheidende Hinweise auf das RAF-Trio. Und die Argumentation des zuständigen Staatsanwalts in der Livesendung: Unzählige Menschen seien durch die Überfälle der drei schwer traumatisiert worden. Dass keine weiteren Fälle dazukommen, sei nicht garantiert.

Fair point: Unvermittelt vermummten und schwer bewaffneten Personen gegenüberzustehen – das wünscht man tatsächlich niemandem. Folgerichtig also, dass die Sensibilität in der Bevölkerung aktuell erhöht ist gegenüber Menschen, auf die die Täterbeschreibung zutrifft (bisschen über 1,80 Meter, alt, die Zähne auch nicht mehr die besten). Und richtig so, dass der mutmaßliche Ernst-Volker Staub in Wuppertal unvermittelt vermummten und schwer bewaffneten Personen gegenüberstand. Ohne solche Vorkehrung bei der Festnahme wäre das Eskalationsrisiko bei Tätern höheren Alters erhöht, auch darauf wies die Staatsanwaltschaft bei „Aktenzeichen XY“ hin: „Aufgrund des Verlustes kognitiver Fähigkeit kann es bei Konfrontationen mit der Polizei durchaus zu Todesfällen kommen.“ Traue keinem Terroristen über 60.

Am Samstagabend stellte sich schließlich heraus, dass es sich bei dem Fahrgast doch nicht um den gesuchten Ex-Terroristen handelte. Aber ein Beinbruch ist das nicht. Der Vorteil an der alternden Gesellschaft: Es kommen genügend andere Gelegenheiten zum Zugriff. Schon heute sind knapp 15 Millionen Deutsche über 60. Viele von uns begegnen den Alten im Alltag, nicht wenige von uns sind selber welche. Der SEK-Einsatz von Wuppertal, er muss also nicht der letzte bleiben. Ernst-Volker, das Reenactment geht weiter!

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Geboren 1988, arbeitet seit 2013 für die taz. Schreibt als Parlamentskorrespondent unter anderem über die Grünen, deutsche Außenpolitik und militärische Themen. Leitete zuvor das Inlandsressort.

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