Tagebuch über russischen Angriffskrieg: Scham und Schuld

Die russische Schriftstellerin Natalja Kljutscharjowa hat ihr „Tagebuch vom Ende der Welt“ veröffentlicht. Es ist ein Zeugnis der Hoffnungslosigkeit.

Menschen auf dem Roten Platz

Roter Platz, Moskau, 12. Juli: Dass das Leben einfach weitergeht, darüber wundert sich auch Natalja Kljutscharjowa Foto: Alexander Zemlianichenko/ap/picture alliance

Es hätte eine Zäsur sein müssen, viel mehr als das, ein allerletzter Weckruf vielleicht. Doch auf den Straßen und Plätzen in Russland war nicht viel davon zu spüren in den Tagen nach dem 24. Februar 2022.

„Manchmal wundere ich mich sehr darüber, dass das Leben offensichtlich weitergeht. Die Straßenbahnen fahren. Die Birkenkätzchen sprießen“, schreibt Natalja Klju­tscharjowa im April 2022 in ihrem Tagebuch, aber diese seien wie „abgeschnittene Blumen in einer Vase. Eine Zeitlang sehen sie noch aus wie lebendig. Aber in Wirklichkeit haben sie keine Wurzeln mehr, keinen Boden, keine Zukunft.“

Gegen Ende ihres Buchs schildert die Autorin, wie eine Frau ihren Job kündigt, obwohl ihr Mann gerade eingezogen wurde und sie unfreiwillig zur Alleinernährerin ihrer Familie wurde. Sie habe es einfach „nicht mehr ertragen, dass auf der Arbeit alle so tun, als wäre nichts.“

Die Schriftstellerin und Lyrikerin Natalja Kljutscharjowa ist nach dem Angriff auf die Ukraine in Russland geblieben. Sie ist nicht wie so viele Putin-Gegner*innen ins Exil gegangen, sie lebt weiter in Jaroslawl knapp 300 Kilometer nordöstlich von Moskau. Und wie so viele andere Oppositionelle leidet sie daran, zurückgeblieben zu sein, hadert mit sich, mit der Frage, was man gegen das brutale diktatorische Regime tun kann – und was nicht.

Natalja Kljutscharjowa: „Tagebuch vom Ende der Welt“. Aus dem Russischen von Ganna-Maria Braungardt. Suhrkamp, Berlin 2023, 167 Seiten, 16 Euro

„Endstation Russland“

Von Unbehagen und Ungewissheit, von Scham und Schuld handelt entsprechend das „Tagebuch vom Ende der Welt“, das die Autorin nun in deutscher Übersetzung veröffentlicht – und das natürlich in ihrem Heimatland nicht erscheinen kann. Kljutscharjowa, Jahrgang 1981, hatte zuvor schon die Romane „Endstation Rußland“ (2010) und „Dummendorf“ (2012) auf Deutsch veröffentlicht – damals schwang bei ihr noch ein Stück Hoffnung mit. Davon ist nun nichts übrig.

Die Perspektive der russischen Dis­si­den­t*in­nen darzustellen, ist das eine Verdienst dieses Buches, es hat daneben aber auch einen großen Mehrwert, zu lesen, wie Kljutscharjowa mit sich selbst, mit ihrer Angst, mit den Worten ringt.

In diesem Ringen liegt auch eine Suche nach Sinn in ihrer Arbeit als Schriftstellerin: „Unsere Aufgabe ist es, heil zu bleiben und Zeugen zu sein. Alles zu sehen, alles zu hören, alles festzuhalten. Und dabei nicht den Verstand zu verlieren, nicht an einem Herzinfarkt zu sterben, nicht, nicht, nicht – noch Millionen Mal nicht.“

Dieser Aufgabe kommt sie nach, es sind viele kleine Geschichten, die Kljutscharjowa hier festhält. Sie erzählt, wie eine Journalistin auf Facebook den naheliegenden Vergleich zum Überfall des nationalsozialistischen Deutschland auf Polen zieht („Jetzt weiß ich, wie sich die deutschen Antifaschisten am 1. September 1939 fühlten“). Sie erzählt, wie sie Schreibkurse gibt und wie ein Teilnehmer ein kafkaeskes Russland zeichnet, in dem man bestimmte Worte nicht mehr aussprechen darf.

„Nein zum Krieg“

Dass diese Geschichte nur die Wirklichkeit darstellt, wird auch klar. Nachdem die Losung „Net wojne“ („Nein zum Krieg“) in Russland verboten wird und verfolgt wird, wer diese Worte schreibt oder sagt, pinseln Oppositionelle stattdessen die Platzhalter „***.*****.“ an die Wände.

Was die Staatsmacht an der Verfolgung nicht hindert: „Bei uns wird man für diese Sternchen längst genauso verhaftet wie für die Worte. Und für ein leeres Blatt, auf dem gar nichts steht“, schreibt Kljutscharjowa. Interessant auch ihre Gespräche mit der befreundeten Psychologin Katja, die sagt, sie seien in Russland ja alle mit dem Imperialen und Bösen aufgewachsen, es habe sich von klein auf in sie eingeschrieben und sie müssten sich davon lösen.

Wer seinen Protest kundtut, wird zu teils sehr hohen Haftstrafen verurteilt wie jüngst Wladimir Kara-Mursa. Aber natürlich ist in diktatorischen und terroristischen Regimes ein bequemes Alltagsleben möglich. Das zeigt Kljutscharjowa einmal mehr.

Wie aber das stille Weiter-so antifaschistisch denkende Menschen innerlich zerreißen kann, das steht in diesem Buch.

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