Waldorfschulen und das Böse: Drachen töten – gegen Neugier

Als Kind feierte unsere Kolumnistin begeistert Michaeli. Heute sieht sie darin: Gut-böse-Dualismus und keine Einordnung des Schutzpatrons der Deutschen.

Herbstliche Blätter vor einer Waldorfschule.

Wenn es Herbst wird in der Waldorfschule … Foto: imago

Wenn es draußen ungemütlicher und dunkler wurde, bekam mein Leben in der Waldorfschule eine besondere Intensität. In relativ dichter Folge feierten wir Michaeli, Erntedank, Martini, Nikolaus, Advent. Das Profane blieb draußen in der grauen kalten Welt, und wir sangen, zündeten Kerzen an und pflegten jeden Morgen die passenden jährlich wiederkehrenden Rituale. Gerade ist Michaelizeit. Erzengel Michael ist Drachenbezwinger und Seelenwäger. Er bekämpft das Böse und entscheidet nach unserem Tod über Himmel oder Verdammnis.

Ich habe im Grundschulalter enthusiastisch gesungen: „O unbesiegter Gottesheld, Sankt Michael! … Hilf uns hie kämpfen, die Feinde dämpfen, Sankt Mi-hi-cha-el!“ Und mich immer gefragt, wieso das „dämpfen“ heißt. Aber egal. Ich hatte schlicht Freude an Machtgebärden, Inbrunst und Heldengeschichten. Und es war ein beruhigendes Gefühl, dass die gute Lichtgestalt siegt und uns alle beschützt, während man morgens so langsam im Dustern zur Schule musste.

Die Michaeli-Rituale sind vielfältig. Wir haben den Drachenkampf besungen, gemalt, geknetet, erzählt. Und wir hatten eine Waage im Klassenzimmer. Für gute Taten durften wir helle Kiesel in eine Waagschale legen. In der anderen lag ein dunkler schwerer Stein. Das Böse besiegen und Selbstüberwindung üben. Dafür gab es Mutproben. Aktuell sehe ich auf Instagram, wie Schwerter aus Hefeteig gebacken und „Drachenblut“ in Form von Traubensaft ausgeschenkt wird. Manche Waldorfschulen bauen einen Drachen, der als Festakt mit der ganzen Schulgemeinschaft entzündet wird. Von Fünftklässlern, die ihn mit brennenden Pfeilen beschießen.

In der Michaelizeit war das Leben bedeutungsvoll und spannend. Es ging um alles. Im Kampf gegen das Böse wollte auch ich meinen Teil beitragen. „Laß mich ein Streiter Gottes sein / In der Ritterschaft des Gral (…) Reich mir zum heißen Drachenkampf / Dein heilig Michael-Schwert!“ Das war mein Lieblings-Michaeli-Lied.

Heute widert mich so vieles an dieser waldörflichen Tradition an

Selbst in innigster Liebe zu Superhelden spüren Kinder, dass die Erwachsenen nicht daran glauben. Aber die Erwachsenen an der Waldorfschule haben an den Superhelden Michael geglaubt. Das war kein Spiel!

Heute widert mich so vieles an dieser waldörflichen Tradition an, dass ich gar nicht weiß, wo anfangen: beim tief Religiösen im Schulalltag, beim brandgefährlichen Gut-böse-Dualismus, bei den unsäglichen Mutproben, beim Martialischen, bei der fehlenden kritischen Einordnung des Schutzpatrons der Deutschen und dessen Verherrlichung in Kriegszeiten, beim Drachentöten …

Denn wer ist der Drache? Er steht für die „Widersachermächte“ Ahriman und Luzifer, und diese beiden repräsentieren unter anderem auch intellektuelle Neugier, leibliches Wohl, technischen Fortschritt, menschliche Intelligenz, Medien, empirische Wissenschaft …

Dinge, die ich für wertvoll und notwendig erachte. Wir werden die Probleme dieser Welt nicht ohne nüchterne Wissenschaft und moderne Technologie in den Griff bekommen. Auch Medien, egal ob in Form von guter Berichterstattung oder für individuellen Eskapismus, sind unabdingbar.

Ich fühle mich rückblickend als kleine Michaelskämpferin instrumentalisiert! Heute bin ich wohl #teamdrache und nähre mit meiner Kritik ahrimanische, böse Kräfte. Tja nun.

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