Flüchtlingsdramen in Nordafrika: Europa ignoriert den Rest der Welt

Die Bekämpfung von Fluchtursachen spielt für die EU keine Rolle. Das Ziel ist nun, schutzsuchende Menschen um jeden Preis fernzuhalten.

Flüchtlinge sitzen an einem tunesischen Hafenkai, bewacht von Polizei

Flüchtende, die das Mittelmeer überqueren wollten, abgefangen an der Küste der südtunesischen Stadt Sfax im Juni 2023 Foto: Hasan Mrad/IMAGESLIVE via ZUMA Press Wire

Über die Hälfte der Bevölkerung von Sudan, 17,7 Millionen Menschen, haben nach UN-Daten zu wenig zu essen. Ein Zehntel, über 4 Millionen, sind akut unterernährt. Knapp 9 Millionen sind inner- und außerhalb des Landes auf der Flucht. Jenseits der Grenzen, etwa in Tschad, mangelt es an allem. Es gibt humanitäre Hilfswerke, aber sie haben kein Geld. Während die Welt zu Recht auf den Horror in Gaza starrt, gerät der Horror in Sudan knapp ein Jahr nach Kriegsbeginn zwischen den mächtigsten Generälen des Landes in Vergessenheit. Wer kann, flieht. Wer nicht kann, stirbt.

Das ist Afrikas unsichtbare Realität, deren sichtbares Ende sich in Elends­lagern „illegaler“ Flüchtlinge in Nord­afrika und kenternden überfüllten Booten im Mittelmeer manifestiert. Nicht nur in Sudan, in vielen Ländern von Mali bis Kongo kollabieren ganze Gesellschaften unter der Wucht der mutwilligen oder schleichenden Zerstörung ihrer Lebensverhältnisse.

Europa begegnet dieser Realität mit einer Mischung aus Härte und Blindheit. Die Härte besteht in der Entschlossenheit, „illegale“ Migration zu stoppen, den Zugang zu Asylverfahren zu erschweren und die Deportation von Schutzsuchenden zu erleichtern. Dafür schließt die EU Abkommen mit autoritär regierten Transitstaaten wie Tunesien, Ägypten oder Mauretanien, wo Grundrechte nicht gelten. Die Blindheit besteht darin, die Gründe zu ignorieren, aus denen sich Menschen in Bewegung setzen und für die Aussicht auf ein besseres Leben ihr Leben aufs Spiel setzen.

„Fluchtursachen bekämpfen“ hieß jahrelang das zentrale Mantra der deutschen Flüchtlingspolitik: Bessere Lebensbedingungen in den Herkunftsländern verringern Emigration. Es war schon immer ein Trugschluss: Bessere Lebensbedingungen ermöglichen vielen Menschen überhaupt erst die Erweiterung ihres Horizontes. Aber immerhin wurde anerkannt, dass es Ursachen für Flucht gibt.

Heute ist von „Fluchtursachen bekämpfen“ keine Rede mehr. Europa will einfach keine Flüchtlinge mehr, zumindest keine außereuropäischen. Man bezahlt andere Länder nicht mehr für das Verringern von Fluchtursachen, sondern für das Unterbinden der Flucht. Sollen die Leute doch einfach hinter dem Mittelmeer unter sich klarkommen – Hauptsache, sie bleiben drüben. Notfalls gibt man dafür Unsummen von Geld aus und geht gleichzeitig weltweit auf Einkaufstour für Fachkräfte und grüne Energiequellen.

Europa will vom Reichtum im Rest der Welt profitieren und zugleich vom Elend im Rest der Welt nichts wissen. Wen wundert es da, wenn der Rest der Welt von Europa nichts wissen will? Wenn Europa seine Politik ohne den Rest der Welt macht, macht der Rest der Welt seine Politik ohne Europa. Bald wird der vergreisende Kontinent auf sich allein gestellt sein und die Welt nicht mehr verstehen. Und der Welt wird es egal sein.

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Seit 2011 Co-Leiter des taz-Auslandsressorts und seit 1990 Afrikaredakteur der taz.

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