Teilweise abgeerntetes rießiges Maisfeld, der Himmel wolkenverhangen und eine Erntemaschine und ein Lastwagen stehen verloren auf dem Feld

Foto: Bernhard Clasen

Landwirtschaft in der Ukraine:Irgendwie weiterackern

Absatzmärkte sind weg­gebrochen, das Personal ist an der Front: Die Landwirte Clara und Moritz Stamm kämpfen um das wirtschaftliche Überleben.

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Aus bahwa in der zentralukraine, 13.11.2023, 12:06  Uhr

Clara Stamm ist auf dem Weg nach Hause. Zu Hause, das ist für die 40-jährige Landwirtin aus Freiburg seit einigen Jahren schon ein Hof in dem Dorf Bahwa in der Zentral­ukraine. Moritz und Clara Stamm leben dort mit ihren vier Kindern auf dem Bauernhof der Familie. Stamm ist gerade im Auto auf dem Rückweg aus der 60 Kilometer entfernten Kleinstadt Uman, wo sie auf der Suche nach dem Ersatzteil für einen Mähdrescher war. Die Landwirtin kennt sich aus, sie kann dem Händler sofort beschreiben, was nicht funktioniert. Wenn etwas kaputt geht auf ihrem Bauernhof, dann ist es ihre Aufgabe, schnell das richtige Ersatzteil zu besorgen.

In der Erntezeit sind die Mähdrescher quasi im Dauereinsatz, den ganzen Tag herrscht ein emsiges Treiben: Lkws fahren von Bahwa ins 30 Autominuten entfernte Onopriiwka, wo die Stamms einen zweiten Hof bewirtschaften, holen dort den gedroschenen Mais vom Feld ab, laden ihn in den riesigen Lagerhallen in Bahwa ab – und fahren wieder los. Und noch spät in der Nacht kann man Moritz Stamm an der Trocknungs­anlage oder in einer Lagerhalle beim Arbeiten be­obachten.

Doch der emsige Eindruck täuscht: Die Stamms kämpfen um ihr wirtschaftliches Überleben. Der Krieg raubt dem Hof, der fast vollständig für den Export produziert, die Absatzmärkte.

Verträumt wirken die frisch in Blau und Weiß gestrichenen Einfamilienhäuser entlang der Dorfstraße von Bahwa. Eine kleine Gruppe älterer Frauen sitzt auf einer Holzbank vor einem dieser Häuser. Man schwatzt, hat es sich gemütlich gemacht und sieht den wenigen Autos nach, die durch das Dorf fahren. Schwanzwedelnd stromern kleine Hunde durch das Dort. Die Luft ist so sauber und rein wie wohl nur in einem abgelegenen Dorf in der Schweiz. In Bahwa gibt es keine Luftalarme, hier hat noch nie eine russische Rakete eingeschlagen. Hier scheint die Welt noch heil zu sein. Clara Stamm hält inne. „Doch, einmal, vor über einem Jahr, hat eine Rakete auf einem Feld in acht Kilometer Entfernung von unserem Hof eingeschlagen. Es hat sich angehört, als wäre ein Lastwagen an die Mauer gefahren.“ Moritz und Clara Stamm haben sich sofort in diese Gegend verliebt, in der sie seit 2004 leben.

„Ich fand damals mehrere Dinge reizvoll“, erzählt der Landwirt. „Zum einen kann ich in der U­kraine günstig produzieren. Der Boden ist gut, die Flächen sind groß und das Klima passt für viele Kulturen.“ Außerdem sei man als Landwirt in der Ukraine angesehener als in der Schweiz, der Staat mische sich nicht so sehr in die Arbeitsabläufe ein, Investitionen seien leichter zu tätigen. „Dafür ist aber auch das Risiko höher.“

Mit über 2.000 Euro Monatslohn in der Hauptsaison bringen die ­Angestellten der Stamms viel Geld in die Region

Inzwischen haben sie einen eigenen Hof, bauen auf knapp 3.000 Hektar – der größte Teil der Flächen ist gepachtet – Mais, Weizen, Raps und Sonnenblumen an. 25 Mitarbeiter hat der Hof, der an zwei Orten sät und erntet. Die Mitarbeiter werden in einer eigenen Küche versorgt. Mit über 2.000 Euro Monatslohn in der Hauptsaison bringen die Angestellten der Stamms viel Geld in die an­sonsten wirtschaftlich schwache Region. Drei große Mähdrescher, ein halbes Dutzend Lkws und riesige Lagerhallen nennen sie ihr Eigen. Die Stamms haben es geschafft.

Plötzlich bremst die Landwirtin ihr Auto ab. „Haben Sie die Blume auf der Straße gesehen?“, fragt sie aufgeregt den Reporter auf dem Beifahrersitz. „Das ist eine der Blumen für den Soldaten Olexandr Melnik. Olexandr ist der Vater einer Klassenkameradin meiner Tochter Olivia. Vor Kurzem ist er im Krieg ums Leben gekommen. Vorgestern hat das ganze Dorf ihn beerdigt.“ Alle seien sie hinter dem Sarg hergegangen, hätten Blumen auf die Straße geworfen, viele hätten geweint um Olexandr, berichtet sie. „Schön, dass eine seiner Blumen immer noch auf der Straße liegt.“

Kürzlich war Clara Stamm auf einem Elternabend in der Schule. 52 Kinder lernen in den neun Klassen der Dorfschule, vier dieser SchülerInnen sind ihre drei Töchter und ihr Sohn. Viele Frauen seien zum Elternabend gekommen, und auffallend wenige Männer: „Viele Väter der KlassenkameradInnen meiner Kinder sind derzeit an der Front im Osten des Landes, habe ich dabei erfahren.“ Einer von diesen Vätern, Sascha Sayez, sei Mähdrescherfahrer in ihrem Betrieb, sagt Clara Stamm.

Wenn nur nicht dieser Krieg wäre, der den Menschen in der Ukraine Leid und Tod bringt und der Wirtschaft die Kraft raubt.

Clara und Moritz Stamm stehen mit ihrem Hund neben einem großen Haufen Maiskörner auf ihrem Hof

3.000 Hektar, 25 Angestellte, zwei Produktionsorte: die Landwirte Clara und Moritz Stamm Foto: Bernhard Clasen

Das Leben in der Ukraine hatte für Clara und Moritz Stamm sehr hoffnungsvoll angefangen. In der Schweiz auf einem Bauernhof groß geworden, ist der heute 43-jährige Moritz Stamm 2004 in die Ukraine gegangen. Den väterlichen Bauernhof hatte sein Bruder übernommen. In der Ukraine hatte Moritz Stamm zunächst als Praktikant, dann als Angestellter auf einem landwirtschaftlichen Betrieb gearbeitet. Und sich dann 2006 als Bauer selbstständig gemacht.

Ein Kredit hatte dem Paar das nötige Anfangskapital gegeben. Schnell war klar, dass als Standort ein Ort nördlich von Odessa infrage kommt. Zum einen war die Nähe zum Schwarzmeerhafen Odessa wichtig. Je näher ein Hof an Odessa liegt, umso geringer sind die Kosten für den Transport des Getreides zum Hafen. Gleichzeitig kam die Gegend unmittelbar um die Stadt herum wegen ihrer großen Trockenheit nicht infrage. Bahwa und Onopriiwka haben sich als gute Wahl erwiesen.

Dann kam der russische Angriffskrieg. Kurz vor dem 24. Februar 2022 hatten Clara und die vier Kinder die Ukraine mit dem letzten Swiss-Linienflug verlassen, sie lebten mehrere Monate im südbadischen Emmendingen. „Am Anfang war die Panik groß“, berichtet Clara, die in dieser Zeit im ständigen Kontakt mit ihren Bekannten und Freunden in Bahwa stand. Ihre ukrainische Freundin habe sich immer wieder im Kartoffelkeller versteckt. Wenn die Kinder nicht gewesen wären, wäre sie geblieben, sagt sie.

Moritz Stamm und seine Mitarbeiter erlebten in der Zeit, was Flucht bedeutet. Jeden Tag waren in diesen Februar- und Märztagen 2022 bis zu 1.000 Autos mit Binnenflüchtlingen aus dem Osten durch das ansonsten so beschauliche und verschlafene 600-Einwohner-Dorf gefahren.

Gerne erinnert sich indes die heute neunjährige Olivia Stamm an die Sommermonate des Jahres 2022 in Deutschland. Ihre Oma, eine pensionierte Lehrerin, unterrichtete die Kinder in Deutsch. Die Geschwister hatten sich in Deutschland mit einem gleichaltrigen Mädchen angefreundet, mit der Olivia immer noch regelmäßig Mails austauscht. Inzwischen ist Olivia wieder in der Dorfschule von Bahwa. Doch ihre Zukunft, erklärt das Mädchen, sehe sie in Deutschland.

In der Schule spricht Olivia Ukrainisch, zu Hause wird Deutsch gesprochen. Und abends sieht sie deutsches Fernsehen. Am meisten liebt sie “Logo“, eine Nachrichtensendung für Kinder.

Moritz Stamm arbeitet die Nacht durch

Der Krieg ist für die Familie Stamm existenzbedrohend, erzählt Moritz Stamm, während er einen riesigen Ofen seiner Trocknungsanlage mit einer weiteren Ladung Stroh füttert. Es ist halb vier Uhr morgens, und das ist für Moritz Stamm keine ungewöhnliche Arbeitszeit. Oft steht er in der Erntezeit nächtelang an der Trocknungsanlage. „Der Mais darf eine Feuchtigkeit von maximal 15 Prozent haben“, klärt er den Besucher auf. Sonst würde er schimmeln. Und auch diese Nacht macht er durch. Niemand außer ihm in seinem Betrieb kann mit der komplizierten Trocknungsanlage umgehen. Moritz Stamm will diese Anlage, das Herz seines Betriebs, auch niemandem anvertrauen. Bei einer unsachgemäßen Bedienung könne die ganze Anlage in Brand geraten, berichtet er.

„90 Prozent unserer Erzeugnisse sind vor dem Krieg exportiert worden“, so Moritz Stamm. Doch seit der Schwarzmeerhafen Odessa durch die russischen Streitkräfte weitgehend blockiert ist, bleibt er auf dem Großteil seiner Produktion sitzen. Er wird wohl auch in diesem Jahr nur wenig von seinem Mais und anderen Erzeugnissen verkaufen können – und das auch noch zu deutlich niedrigeren Preisen.

Vor dem Krieg seien in Spitzenzeiten bis zu 280 Dollar für eine Tonne Mais bezahlt worden. Zwar könne man jetzt über den Flusshafen von ­Ismail an der Grenze zu Rumänien landwirtschaftliche Erzeugnisse exportieren. Doch nach Ismail ist es weit, 200 Kilometer weiter als nach Odessa. Und längere Transportwege bedeuten auch höhere Kosten. 40 Euro pro Tonne Mais koste allein die Überfahrt von Ismail zum Hafen Constanta in Rumänien. Aber zum einen sei die Kapazität von Ismail nicht annähernd vergleichbar mit dem Hafen von Odessa, zum anderen seien auch die Gebühren des Exportes über Ismail teuer. Und auch der Preis, den man in Rumänien für das Getreide erhalte, sei relativ niedrig.

Mais im Überangebot – die Preise fallen

Wenn man den Mais nach Deutschland ­exportiere, bezahle man allerdings 130 bis 160 Euro pro Tonne, allein für den Transport auf dem Landweg nach Deutschland. Und bei dem aktuellen Überangebot in der Ukraine erhalte man in Deutschland auch nur noch gerade mal 220 Euro pro Tonne. Für den landwirtschaftlichen Produzenten bleibe da kaum etwas übrig, sagt Stamm.

Auch der Düngerpreis habe sich im letzten Jahr verdreifacht. Während er vor dem Krieg jährlich 700.000 Euro für Dünger ausgegeben habe, bezahle er jetzt zwei Millionen Euro. Sicherlich könne man beim Dünger etwas sparen, auf Kali könne er auch zeitweise verzichten. Aber auf Dauer komme man ohne Phosphor, Kali und Stickstoff nicht aus, sagt der Experte: „Man sieht einem Feld sofort an, wenn es keinen Stickstoff erhält.“

Vier Millionen Euro hat der Hof der Stamms in anderthalb Jahren, seit Februar 2022, an Einnahmen verloren – konservativ gerechnet. Insgesamt seien die Verluste sogar noch höher gewesen. „Wir nehmen aktuell die Hälfte von dem ein, was wir brauchen, um die Kosten zu decken“, so Moritz Stamm zur taz.

Und die nichtmateriellen Verluste seien noch schwerwiegender: „Zu wissen, dass jetzt mein bester Mähdrescherfahrer in russischer Kriegsgefangenschaft ist, raubt mir oft den Schlaf“. Aktuell lägen 20- bis 25.000 Tonnen Getreide auf dem Hof. Niemand wisse, wie lange sie da noch liegen werden. Aber eigentlich könne man Mais nicht länger als zwei Jahre liegen lassen, sagt der Landwirt.

Nun mache es Sinn, denkt Stamm nach, im nächsten Jahr einfach einige Felder brach liegen zu lassen. Wenn er 2022 die Felder nicht beackert hätte, wäre er lediglich mit einem Minus von einer Million Euro davongekommen, rechnet er vor – weil dann etwa Kosten für Dünger und Treibstoff für die Maschinen nicht angefallen wären. „Ich hätte meine Leute und meine Steuern bezahlt, mehr nicht. So habe ich aber vier Millionen Euro verloren.“

Blau gestrichene Einfamilienhäuser mit hellem Holzzaun stehen an der Straße

Die Front ist weit weg: frisch gestrichene Einfamilienhäuser entlang der Dorfstraße von Bahwa Foto: Bernhard Clasen

Aber auch wenn morgen der Krieg zu Ende wäre, hieße das nicht, dass dann die Preise sofort wieder auf das Vorkriegsniveau steigen würden. Ein oder zwei Jahre können die Stamms noch durchhalten, sagen sie. Doch dann müsse man das Projekt Bauernhof in der Ukraine beenden. Er könne ja nicht ewig nur für die Lagerhallen produzieren, sagt Stamm.

Seit vergangenem Sommer ist die Ukraine offiziell EU-Beitrittskandidat. Am Mittwoch hat die Kommission in Brüssel die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen empfohlen – obwohl, wie auch Kommissionschefin Ursula von der Leyen sagte, die Ukraine noch nicht alle Bedingungen für einen Beitritt erfüllt habe. Unter anderem verlangt die EU eine glaubwürdige Zusicherung der Ukraine, verstärkt gegen die Korruption im eigenen Land vorzugehen.

Auch Moritz Stamm kann von einigen Unregelmäßigkeiten im Kontakt mit vor allem einer Behörde berichten: Die Erledigung von Zollformalitäten sind für ihn und seine Buchhaltung eine große Herausforderung. In der Ukraine, so Stamm, herrsche beim Zoll mehr Bürokratie, seien die Abläufe undurchsichtiger als in der Schweiz oder in Deutschland. Er habe in der Schweiz in Grenznähe gelebt und gesehen, dass Zollformalitäten oft nur 30 Minuten in Anspruch nähmen. In der Ukraine dauerten Bearbeitungs- und Wartezeit auch mal zwei Wochen.

Eine Herausforderung für die Fahrer seien auch die Wartezeiten von bis zu zwei Wochen an der Grenze. Und in dieser Zeit lebten die Lkw-Fahrer wie Hunde, so drückt es Stamm aus. Dabei brauche er gerade jetzt, in Zeiten akuten Personalmangels, jeden Fahrer. Aber auch Transporte mit der Bahn raubten ihm manchmal die Nerven: Das Güterbahnsystem in der Ukraine sei kompliziert und qualitativ schlecht. Seit Kriegsbeginn seien die Preise für den Güterverkehr auf den Schienen stark gestiegen.

„Mir ist es schon passiert, dass ich in der Schweiz einen Traktor gekauft habe, dem ukrainischen Zoll die Rechnung vorgelegt habe, und dann erleben musste, dass man meinen Papieren nicht glauben wollte.“ Der ukrainische Zoll habe eigene Gutachter herangezogen. Und die seien zu dem Ergebnis gekommen, dass der tatsächliche Preis dieses Traktors doppelt so hoch wäre. Und im Endeffekt habe er doppelte Zollgebühren bezahlen müssen, sagt Stamm.

Natürlich hätte er vor Gericht gehen können. Aber die ganze Wartezeit über hätte er dann Standgebühren an den Zoll bezahlen müssen. Verloren hätte er die Auseinandersetzung mit dem Zoll also gewissermaßen auch dann, wenn er vor Gericht gewonnen hätte.

Der Krieg hat das Personalproblem verschärft, die Stamms finden kaum noch Fahrer für ihre Mähdrescher

Und noch eine Geschichte erzählt Stamm: Sollte der Zoll bei einer Sendung mit Reifen auf selbigen Spuren von Erde entdecken, sei auch das ein Grund für Tests auf Radioaktivität. Auch in diesem Fall müsse der Unternehmer die Gebühren für die Lagerung der Ware beim Zoll bezahlen. Insgesamt, da ist sich Moritz Stamm sicher, geschähen diese Schikanen mit Billigung „von oben“. Irgendwer, so Stamm, scheine daran interessiert zu sein, dass sich jemand am Zoll die Taschen stopft.

Auch Diebstahl macht den Stamms zu schaffen. Auf beiden Höfen, die mit Stacheldraht geschützt sind, habe man Nachtwächter, die darauf achten müssen, dass niemand nachts unbefugt das Gelände betrete.

Der Krieg hat zudem das Personalproblem verschärft, die Familie Stamm findet kaum noch Fahrer für ihre Mähdrescher und Lkws – obwohl der Betrieb mit 2.000 Euro pro Monat in der Hochsaison überdurchschnittliche Löhne bezahlt. Doch vor allem junge Menschen versuchen, in Städten oder im Ausland bessere Jobs und damit ein besseres Leben zu finden. Wer bei einer großen Firma Aufträge für Fahrten ins Ausland hat, wird sich nicht auf einem landwirtschaftlichen Hof verdingen.

Porträt von Olexi im Fahrerhaus eines LKWs

Muss wegen eines Rückenleidens nicht in den Krieg: Mähdrescherfahrer Olexi Foto: Bernhard Clasen

Einer, der gerne in der Landwirtschaft arbeitet, ist der 44-jährige Olexi. Dass er überhaupt Mähdrescher fahren kann, liegt an dem inzwischen in Kriegsgefangenschaft sitzenden Mitarbeiter Sascha Sajez, der Olexi noch eingearbeitet hatte. Olexi wohnt in der Ortschaft Onoprijiwka, wo die Stamms ihren zweiten Hof haben.

Olexi war nicht im Krieg. Wegen seiner Rückenprobleme, sagt er. Aber 50 Männer aus seinem Dorf seien an der Front – bei einer Bevölkerung von 350 Menschen. Was Olexi nicht verstehen kann, ist, dass hier in dieser Gegend viele russischsprachige Familien aus dem Donbass leben, die von dort vor der Front geflohen sind. Das führt zu Konflikten mit der einheimischen Bevölkerung: Dass Männer aus dem Donbass in der Umgebung von Uman leben, während einheimische Männer ebenjenen ukrainischen Donbass verteidigen, das passt vielen in der Dorfbevölkerung nicht.

Lkw-Fahrer Witja, ein Mann mit Schnurrbart, der bei den Kaffee- und Zigarettenpausen immer ein gern gesehener Unterhalter ist, war selbst mehrere Monate an der Front im ukrainisch kontrollierten Donbass: „Dort habe ich alles gesehen.“ Besonders gewundert habe er sich über die fehlende Dankbarkeit der Bevölkerung. So sei es vorgekommen, dass sein Militärwagen an einer Tankstelle nicht betankt worden sei, weil man etwas gegen die Streitkräfte habe. Ja, sagt er, im Donbass gäbe es einige Menschen, die auf der Seite von Russland seien. Und außerdem brächten es die Rückeroberungen mit sich, dass noch weitere Gebäude in Mitleidenschaft gezogen würden. Und das gefalle vielen Einheimischen nicht.

Wer mit dem Lastwagen nach Onopriiwka, der zweiten Niederlassung der Stamms, fährt, kann die Depression der Landbevölkerung förmlich spüren. Jedes zweite Haus steht leer. Wer sich hier ein Haus kaufen will, hat eine große Auswahl: Im Internet werden sie auf der Plattform olx.ua für 2.000 bis 5000 Euro zum Kauf ­angeboten. Und ­dieses Aussterben ganzer Dörfer wird ­weitergehen. Hier kann die Gesamtbevölkerung eines Dorfs es schlechter kompensieren, wenn die Männer in den Krieg einberufen werden, als in den Metropolen. Und nicht alle Bauern haben das nötige Kleingeld, um ein oder zwei Jahre nur für die Lagerhallen zu arbeiten: Dann müssen sie verkaufen.

„Die Zukunft gehört den großen Agroholdings“, resümiert Mähdrescherfahrer Olexi die Stimmung im Dorf Onopriiwka. Sollte Familie Stamm eines Tages den Betrieb aufgeben und die Gegend verlassen, wäre diese um eine lebendige Initiative ärmer – und um eine weitere Depression reicher.

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