Aus „Le Monde diplomatique“: Die Frankenstein-Industrie

High-Tech-Hühner, Designer-Kühe und Pharma-Cocktails: Ein Blick in die Abgründe der globalen Fleischproduktion.

Legebatterie oder Mastfabrik? Wohin geht's nach der „Grünen Woche“? Bild: reuters

Der vielleicht größte Mythos im Zusammenhang mit dem Fleischverzehr ist der seiner Natürlichkeit. Es sei natürlich, dass der Mensch Fleisch esse. Es ist scheinbar selbstverständlich.

Zur Illustration wird gern auf die frühsteinzeitliche Jäger-und-Sammler-Gesellschaft verwiesen, ungeachtet der Tatsache, dass einige von deren Gepflogenheiten uns heute schaudern machen: Frauenraub zum Beispiel, Menschenopfer oder das Aufbewahren menschlicher Skelettteile zwecks Ahnenverehrung. Vor allem aber ist der Rekurs auf den frühen Jäger und die in der Höhle wartende Gefährtin (sie hat derweilen ein paar lumpige Beeren gesammelt) deswegen verblüffend, weil die oft tagelange gemeinschaftliche Jagd mit ungewissem Ausgang nichts weniger ähnelt als dem recht gefahrlosen Gang in den Supermarkt.

Beide Tätigkeiten und die damit verbundenen Sinneseindrücke entstammen unterschiedlichen Welten; es ist fraglich, ob der Steinzeitmensch, wenn man ihm ein in Folie verpacktes Tiefkühlhuhn in die Hand drückte, sofort etwas damit anzufangen wüsste.

Sobald es aufgetaut wäre, würde es sich der Steinzeitmensch gewiss erfreut zuführen wie jedes andere unverhofft am Wegesrand gefundene Stück Kadaver; doch in dieser Rolle, also als Aasfresser, sieht sich der moderne Fleischkonsument ja auch wieder nicht! Trotzdem gelingt dem Supermarktkunden die – im Grunde auch nicht wenig beachtliche – Kulturleistung, das an weit entfernten Orten unter industriellen Bedingungen und mit einer Menge chemischer Zusätze hochgepäppelte Stück Leben, das hunderte Kilometer transportiert, in eine Kette eingehängt, per Stromschlag im Wasserbad betäubt und dann geschlachtet wurde und ihm selbst erstmals als eisige, steinharte Substanz entgegentritt, als etwas wahrzunehmen, das dem ähnelt, was der entfernte Vorfahr erjagt hat.

ist Veganerin und Muslima. 2011 erschien ihr Buch „Von einer, die raus zog“ im Dumont-Verlag. Sie lebt mit vielen Tieren auf einem Hof in Niedersachsen.

Wozu nun dieser imaginäre Exkurs in Steinzeitwelt und Supermarkt? Um darauf hinzuweisen, dass man den heutigen Fleischkonsum für vielerlei halten kann: lecker, weit verbreitet, bequem, unappetitlich, ungesund, gesund, zivilisiert, barbarisch et cetera. Nur eines ist er eben nicht: „natürlich“. Welches Fleisch wir essen, wie wir daran gelangen, wie wir es zubereiten und sogar wie es – immerhin ein Produkt organischen Ursprungs – überhaupt gewachsen ist, all dies ist Ergebnis spezifischer und historisch äußerst wandelbarer menschlicher Praktiken. Doch der Vorteil der gängigen Betrachtung liegt auf der Hand: Was als natürlich gilt, ist von vornherein jeder Notwendigkeit zur Rechtfertigung enthoben, muss gesellschaftlich scheinbar nicht verhandelt werden, ist unserem moralischen und politischen Urteilen weitestgehend entzogen.

Genau aus diesem moralfreien Raum haben Bücher wie Jonathan Safran Foers „Tiere essen“ und Karen Duves „Anständig essen“ den heutigen Fleischverzehr heraus- und in die öffentliche Arena gezerrt. Es muss sich nicht mehr allein der Vegetarier verteidigen, warum er sich zu seinen „absurden“ Ernährungsgewohnheiten verstiegen hat, sondern auch der Fleischesser ist mit Argumenten konfrontiert.

Und eben mit Fakten. Nicht zufällig schenken die erwähnten Bücher dem empirischen Herstellungsprozess des Fleisches mehr Aufmerksamkeit als dem abstrakten ethischen Für und Wider. Viele, ja die allermeisten Menschen mögen es grundsätzlich in Ordnung finden, Tiere zu Nahrungszwecken zu züchten und zu töten. Doch wie dieser Teil der Nahrungsproduktion tatsächlich praktiziert wird, nämlich per Massentierhaltung, hält kaum ein informierter Konsument für ethisch vertretbar. Bezüglich der Ablehnung der Massentierhaltung hat sich ein gesellschaftlicher Konsens herausgebildet, der bislang allerdings weder Alltags- noch Rechtspraxis geworden ist.

Wir alle wissen ja: So wenig wie mit der steinzeitlichen Jagd hat die heutige Fleischproduktion mit jenen idyllischen Bauernhöfen gemeinsam, die die Ausmal- und Wimmelbilder unserer Kinder füllen. Was man über die Wirklichkeit erfährt – indem man eine Fernsehreportage über Hühnerfabriken sieht oder auf der Autobahn an einem Schweinetransporter vorbeifährt –, muss man schnell verdrängen, weil sich ein solches Ausmaß von Leid und Schrecken schwer aushalten lässt.

Wer sind nun diese Schweine im Lkw? Sie sind Säugetiere, empfindungsfähige Organismen, natürliche Lebewesen – und sind es nicht. Es wurde oben bereits angedeutet, dass sogar das Wachstum des Nahrungsmittels Fleisch kein rein natürlicher Vorgang ist. Auch mit klassischer Landwirtschaft hat die heutige Intensivtierhaltung wenig zu tun, vielmehr ist sie Hightech-Industrie mit Tieren. In industriellen Prozessen werden diejenigen Vorgänge von Lebewesen, die technisch vom Menschen noch nicht hervorgebracht werden können, deren Effekte aber gewünscht sind, in einen so weit wie möglich industrialisierten Produktionsprozess eingebaut. Zucht, Besamung, Fütterung, Haltung – in sämtlichen Phasen des Nutztierlebens führt der Mensch längst über die Natur Regie.

Wenn das nur dieses eine, bis heute noch nicht ganz kontrollierbare Moment wäre, dieser verflixte Funke Leben! Doch diesem „Leben“ ist eben nur noch eine Nebenrolle zugewiesen in der heutigen Frankenstein-Industrie, die sich der eigenmächtigen und eigennützigen Planung und Erschaffung von Lebewesen verschrieben hat und auf diese Weise Fleisch, Eier und Milch für bereits ein bis zwei Milliarden von Menschen produziert.(1)

Wer sich mit der modernen Agrarindustrie beschäftigt, den wird eines am stärksten verblüffen: die Beobachtung, dass heutige Ställe nicht mehr rund um die Tiere, sondern vielmehr die Tiere passend für die Haltungssysteme „designt“ werden. Aus diesem Grund ist die tierschützerische Forderung nach besseren Haltungsbedingungen zwar völlig richtig, ihre Erfüllung allein würde aber leider nicht genügen.

Denn fast sämtliche heutigen Nutztierrassen sind derart auf Effizienz gezüchtet, dass ihr Organismus darunter leidet. Sie sind anfällig für Störungen im Knochenbau, das Skelett kann mit dem Muskelwachstum nicht Schritt halten, sie neigen zu Stoffwechselstörungen, Flüssigkeitsansammlungen in der Bauchhöhle, chronischen Entzündungen überbeanspruchter Organe – oder gleich mehreren solcher Symptome auf einmal. (2) Entsprechende Verhaltensstörungen kommen hinzu.

Versuche haben gezeigt, dass Masthähnchen offenbar aufgrund ihrer chronischen Schmerzen die erhöhten Sitzstangen in ihrem Stall ohne Gabe von Schmerzmitteln gar nicht mehr erreichen konnten. (3) Und damit die zur Weiterzucht verwendeten Elterntiere solcher Mastgeflügelrassen überhaupt fortpflanzungsfähig sind (und nicht zu groß, schwer oder plump), muss ihnen Futter vorenthalten werden, weswegen sie permanent hungern und Verhaltensauffälligkeiten zeigen. (4)

Auch dies mutet paradox an vor dem Hintergrund unterstellter „Natürlichkeit“ – da wir doch gemeinhin annehmen, anders als das Kulturwesen Mensch vollziehe ein Tier sein Leben „nur“ in der Befriedigung überschaubarer natürlicher Grundbedürfnisse. Doch bereits diese basalen tierischen Verhaltensweisen sind eben durch die Zucht immens eingeschränkt: die Bewegung, die Futteraufnahme, das Sozialverhalten – und die Fortpflanzung natürlich auch. Bei Hühnern ist die Zuchtwahl dermaßen weit fortgeschritten, dass heutige Hybridrassen nur noch entweder für Eier- oder für Fleischproduktion geeignet sind.

Das Erbgut und Know-how entsprechender „Zuchtlinien“ liegt weltweit in der Hand weniger Firmen, die für ihre „Produkte“ exakt angeben, wie viele Eier eine durchschnittliche Henne im ersten Jahr legen wird, wenn sie soundso viel Gramm eines bestimmten Futters bei soundso vielen Stunden Licht et cetera erhält. Eine streng geregelte Kette von Großelterntieren, Elterntieren, Brütereien und Aufzuchteinrichtungen gewährt die „gleichbleibend hohe Qualität“ – des Produkts Tier.(5)

Auch bei einem Säugetier wie dem Rind steuert die moderne Reproduktionstechnologie längst alles außer dem Wachstum innerhalb der Gebärmutter. Durch das strenge Überwachen einzelner Zuchtparameter wurde und wird nicht nur die Milchmenge kontinuierlich gesteigert, sondern auch der Eiweiß- und Fettbedarf der Milch je nach den Bedürfnissen des Marktes variiert. Künstliche Besamung ist Standard, zusätzlich werden inzwischen auch In-vitro- und In-vivo-Verfahren eingesetzt.

Bei der In-vivo-Methode wird der Eisprung hormonell angeregt, später werden die Embryonen herausgespült, unterm Mikroskop begutachtet und in Behältern mit flüssigem Stickstoff bei minus 196 Grad Celsius zu den Empfängertieren transportiert. Dank solcher Embryonen und jährlich etwa 2,5 Millionen verschickter Portionen Sperma verspricht die niedersächsische Firma Masterrind GmbH ihren Kunden „die Sicherheit maßgeschneiderter Qualität“.6

Die extreme Leistungssteigerung hat dazu geführt, dass heute zwei Drittel der Milchkühe vorzeitig aufgrund von Sterilität, Stoffwechselkrankheiten und Eutererkrankungen geschlachtet werden müssen.(7) Die Häufigkeit der chronischen (und schmerzhaften) Eutererkrankung bei der Kuh schätzen Tierärzte auf 40 Prozent. Wie mir ein schleswig-holsteinischer Rinderzüchter erklärte, züchten er und seine Kollegen daher derzeit nicht nur auf noch mehr Eiweiß, sondern eben auch „auf gesunde Euter und gute Beine“. Ich fragte nach, was mit „guten Beinen“ gemeint sei. Nun, schließlich komme man immer mehr von der ausschließlichen Anbindehaltung ab, bei der die Kühe einzeln auf ihrer Standfläche fixiert werden und ihr Futter vorgelegt bekommen.(8)

In Lauf- oder Boxenställen dagegen müssen sich die Tiere selbst zum Futterplatz und zum Melken bewegen. „Die Tiere müssen also wieder gehen können“, formulierte es der Rinderzüchter. So erklärt sich, dass bei einem vierbeinigen Landsäugetier „gute Beine“ zum Zuchtziel werden, damit es die Fähigkeit zur eigenständigen Fortbewegung (zurück-)erhält. Und dazu wird Sperma in stickstoffgekühlten Röhrchen verschickt.

Nun könnte man einwenden: Während wir in Europa Bedenken wälzen, ob wir aus Tierschutzgründen weniger Fleisch, Eier und Milch essen sollten, versuchen Menschen in anderen Teilen der Welt erst einmal, sich der von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) empfohlenen Kalorienmenge von unten zu nähern. Sobald dies gelingt und Einkommen und Lebensstandard steigen, werden auch mehr Milch, Eier und Fleisch konsumiert. So hat sich der weltweite Fleischverbrauch allein in den Entwicklungsländern von 1963 bis 1999 mehr als verdoppelt.(9)

Die Milchproduktion in Schwellenländern in Asien und Lateinamerika hat eine Steigerungsrate von circa 3 Prozent, die der Eierproduktion von 2 Prozent – jährlich.(10) Es handelt sich, könnte man den Eindruck bekommen, um eine Entwicklung analog zur weltweiten Verbreitung des Autos. Die Bewohner der Industrienationen verpesten schon seit Jahrzehnten mit ihren Abgasen die Luft – sollen deswegen Chinesen auf ewig nur Fahrrad fahren? Wollen wir der langen Reihe unserer kolonialistischen Exporte nun auch noch unsere neu entdeckten moralischen Skrupel hinzufügen, denen zufolge der Rest der Menschheit vegetarisch zu leben habe?

Auch hier begegnet uns übrigens die Idee der Natürlichkeit oder Selbstverständlichkeit des Fleischessens (und Verzehrs anderer tierischer Produkte). In vielen Veröffentlichungen wird der Zusammenhang zwischen steigendem Lebensstandard und steigendem Konsum als gleichsam zwangsläufige, sich selbst erklärende Entwicklung dargestellt, kann beispielsweise knapp lauten: „Während die Green Revolution eine konzertierte politische und wissenschaftliche Antwort auf rasch wachsende Bevölkerungen war, wird die Livestock Revolution, die sich derzeit in den Entwicklungsländern vollzieht, vom Steigen der Einkommen und der weltweiten Mittelklasse vorangetrieben.“(11) Das ist einerseits nicht falsch, andererseits aber, wie im Folgenden gezeigt werden soll, nicht die ganze Wahrheit.

Was bezeichnen überhaupt die Wörter „Green Revolution“ und „Livestock Revolution“? Das Erstere meint die Steigerung der landwirtschaftlichen Produktion von Getreide und Feldfrüchten mittels des Einsatzes von Kunstdünger, Pestiziden und neuen Züchtungen von den 1940ern bis Ende der 1970er. Analog dazu heißt Livestock Revolution („livestock“: Englisch für Nutztier) die in den 1980er Jahren einsetzende Technisierung und Effizienzsteigerung bei der Produktion tierischer Nahrungsmittel. Während allerdings inzwischen bekannt ist, dass die Segnungen der Green Revolution auch mit diversen Flüchen wie DDT-Katastrophen und der Quasimonopolisierung des Saatguts erkauft waren, weckt der Begriff der Livestock Revolution noch deutlich weniger (und weniger negative) Assoziationen.

Zu den Ländern, in denen sich diese „Revolution“ vollzieht, zählt Indien, das auch deshalb besonders interessant ist, weil es für seine lange vegetarische Tradition bekannt ist. 20 bis 30 Prozent der Inder leben vegetarisch.(12) Weit verbreitet ist immer noch die Ablehnung von Rindfleisch, dafür wird stärker auf Büffelfleisch zurückgegriffen. Außerdem boomt die Produktion von Eiern und von Hühnchenfleisch mit einer Steigerungsrate von jährlich 8 Prozent.(13) Bisweilen wird Huhn als gute Möglichkeit angepriesen, mit dem der „einfache Mann“ Speiseplan und Einnahmequellen ergänzen könne.

Allerdings stellt sich bei einem näheren Blick auf die Produktion des Hühnchenfleisches heraus, dass die Produzenten und ersten Nutznießer des gestiegenen Hühnchenfleischkonsums mitnichten Kleinbauern sind, die sich ein paar Hühner halten;(14) sondern man trifft in der indischen Hühnchenproduktion auf exakt dieselben Global Player mit Intensivtierhaltung, die man schon aus europäischem Rahmen kennt.

Weil die Hühnerzüchtung und -produktion weltweit auf eine Handvoll Firmen konzentriert ist, sollen hier kurz zwei von ihnen benannt werden. Erinnern wir uns, dass die Hühnerzucht in Legehennen und Masthähnchen (eigentlich: Masthühner beiderlei Geschlechts) unterteilt ist. Zu den weltweit größten Produzenten von Masthähnchen gehört die PHW-Gruppe (nach Paul-Heinz Wesjohann), die unter anderem, aber längst nicht nur die Firma Wiesenhof kontrolliert. Dem Bruder Erich Wesjohann wiederum gehört die EW Group unter anderem mit den Firmen Lohmann (Weltmarktführer für Legehennen) und Aviagen (Genetik in der Geflügelzucht).(15) Beide Unternehmen agieren weltweit und arbeiten dabei, grob gesagt, mit dem Prinzip der Lizenzvergabe und der vertikalen Arbeitsteilung.

In vielen, nicht allen Fällen verbleiben die Großelterntiere und deren wertvolles Genmaterial in der Hand der Firma selbst, die dann Bruteier an Fremdfirmen liefert;(16) diese Firmen lassen die nächste Generation ausbrüten, geben sie eventuell weiter zu Aufzucht und Mast; für die Schlachtung gehen die Tiere manchmal an die erste Firma zurück. Es handelt sich um ein flexibles, überall einsetzbares System, mit dessen Hilfe viele Risiken und ein Großteil des Preisdrucks an andere Firmen weitergegeben werden können. Die Gewinnmargen für die anderen beteiligten Firmen sind äußerst knapp kalkuliert.(17)

Eine solche Fremdfirma, die mit beiden Wesjohann-Unternehmensgruppen (also sowohl in der Eier- als auch der Hühnchenproduktion) kooperiert, ist Suguna Poultry, die 1984 von zwei indischen Unternehmern gegründet wurde. Deren Website leuchtet in wunderschönen warmen Farben, die Slogans stehen dem nicht nach. „We dream for a healthier, happier India“, heißt es, und man verfolge „a vision to energise rural India“. Das passt gleichermaßen gut zur erklärten Firmenphilosophie der EW-Group („think globally, act locally“) wie zur Überzeugung von Paul-Heinz Wesjohann: „Ich bleibe dabei: Die moderne Geflügelzucht ist eine große soziale Tat.“(18)

Von der einen Unternehmensgruppe bezieht Suguna Poultry die Masthühner, von der anderen die Legehennen. So wurde Suguna Poultry die „unangefochtene Nummer eins im indischen Geflügelgeschäft“; vor zwölf Jahren machte die Firma 29 Millionen Euro Umsatz, heute sind es 570 Millionen.(19 )Ein Netz von 15 000 Bauern arbeitet für die Firma, und es werden mehr angeworben. Zu den Hähnchenställen gesellen sich Zuchtanlagen, Brütereien, Laboratorien und Futtermühlen. Derzeit produziert Suguna Poultry wöchentlich 7 500 000 Masthähnchen vom Typ Ross 308(20) – ein Huhn, dessen „Bedienungsanleitung“ 100 Seiten umfasst;(21) als Legehenne wird Lohmann LSLLITE eingesetzt, „ein Huhn mit spezieller Genetik für den indischen Markt“.

Bei diesen Hightech-Hühnern ist alles genauestens aufeinander abgestimmt: Wie sie gehalten werden, welches Futter sie benötigen, wie sie (gerade in wärmeren und feuchteren Gefilden) motiviert werden können, genug Wasser aufzunehmen, denn: „Ein Huhn, das nicht trinkt, nimmt auch kein Futter auf.“(22) Nimmt es aber weniger Futter auf als in den Unternehmenslaboren berechnet und in der Anleitung angegeben, produziert es weniger als erhofft und kostet eventuell sogar mehr, als es liefert.(23)

Das Huhn entpuppt sich also als eine Art Danaergeschenk wie jene Puppe, die Michael Endes Figur „Momo“ geschenkt bekommt; erst nach und nach versteht Momo, dass diese Puppe auch nach bestimmten Kleidern, Spielzeug und einem Gefährten verlangt. Im Falle der Hühner (die allerdings von vornherein bezahlt werden müssen) kommen also Futter, Käfig, auch spezielle Impfungen hinzu. Sie sorgen dafür, dass ein Bauer, der direkt oder über Suguna Poultry einen „exklusiven Distributorenvertrag“(25) mit den niedersächsischen Unternehmen abgeschlossen hat, nicht ohne das restliche Paket auskommen wird.

So entstehen – nicht nur beim Huhn, sondern auch bei anderen modernen Hochleistungstieren – überall neue Absatzmärkte für weitere europäische Firmen. Futtermittel und Impfstoffe wurden schon erwähnt. Haltungssysteme (darunter auch die in der EU verbotene herkömmliche Hühner-Käfighaltung) liefert weltweit die in Vechta angesiedelte Firma Big Dutchman, die ein Patent zur automatischen Fütterung von Legehennen besitzt. Und auch die Milchkühe, deren Sperma wie oben beschrieben weltweit versandt wird, funktionieren in der Ferne wie Momos Puppe.

Die Firma Siemens installiert dann die Technik der indischen Großmolkerei Vadushara Dairy; eine schwedische Firma beteiligt sich an der ersten Milchfarm in Kambodscha; eine spanische Firma liefert weltweit die Apparaturen für die Klauenpflege von Kühen. Damit die später gewonnenen Produkte überhaupt erst transportiert werden können, müssen in den betreffenden Ländern Verpackungsmöglichkeiten, Transportsysteme und Kühlketten aufgebaut werden. Also investieren deutsche und andere Firmen in Lkws und Kühlsysteme; überall sind im Rahmen der Green Revolution Know-how und Geld aus Europa und Nordamerika gefragt.

Doch was heißt eigentlich, dass etwas „gefragt“ sei? Wer bittet hier wen um Kooperation, und ist es nicht vielmehr oft so, dass Geld und Technologien in andere Märkte „eindringen“, sie „erobern“ oder gar erst generieren? Wiederum ist Indiens Beispiel aufschlussreich, weil es daran erinnert, dass mit dem Produkt totes, tiefgefrorenes Huhn allein nicht viel anzufangen wäre. Traditionell wurden Hühner in Indien lebend auf dem Markt gekauft und in der Nachbarschaft geschlachtet, was aus hygienischen Gründen auch gar nicht anders möglich war. Heute muss ein geschlachtetes Tier frisch gehalten und zu potenziellen Endabnehmern transportiert werden. Schließlich braucht es auch neue Arten der Verwertung, sprich Restaurants, Gewohnheiten und Rezepte. Nicht zufällig bietet Suguna Poultry auch Fertiggerichte an.

Nur das ärmste Fünftel der Weltbevölkerung, dem täglich 1 Dollar oder weniger für Nahrung zur Verfügung steht, wird auch dieses Angebot wohl nicht erreichen. So überlegt die zur EW Group gehörende Firma Aviagen: „Die Vermarktung von Hähnchenfleisch an diese Menschen ist aus offensichtlichen Gründen schwierig. Die einzige Gelegenheit, diesem Fünftel Chicken nahe zu bringen, ist durch den Verkauf von Hähnchenfleisch an Organisationen, die Nahrungsmittelhilfe vergeben.“(26) Es ist hier leider nicht der Platz, Milchpulverlieferungen in die Dritte Welt und ähnliche Phänomene zu diskutieren. Nur so viel sei gesagt: Zumindest auf dem Milchmarkt hat die Firma Danone einen direkten Weg zu den Portemonnaies der Ärmsten gefunden. An Niedrigverdiener in Indonesien hat die Firma erstmals 2004 Joghurt in 70-Gramm-Fläschchen für umgerechnet 10 Cent verkauft und 2009 in Senegal speziell für die unterste Einkommensgruppe den Trinkjoghurt Dolima (Wolof für: „Gib mir mehr“) kreiert.(27)

Zugegeben: Aus hinreichender Distanz betrachtet ist alles trivial, was über solche Mechanismen der Weltwirtschaft gesagt werden kann. Selbstverständlich suchen europäische Investoren internationale Absatzmärkte. Selbstverständlich generieren sie diese Märkte selbst mit. Europäische Regierungen stehen ihnen dabei zur Seite. Doch dies ist eben nicht dasselbe „Selbstverständlich“, mit dem man zunächst unbefangen nicken wird, wenn man hört, dass steigender Wohlstand weltweit auch mehr Bedarf an Fleisch, Eiern und Milch generiert. Kein Senegalese muss Danone-Joghurt trinken; kein indischer Städter braucht ausgerechnet Sugunas Home Bites’ Spaghetti Bolognese vom Huhn.

Japans Bewohner – die sich zum Bedauern der europäischen Milchindustrie weigern, ihren Trinkmilchkonsum weiter zu steigern – kämen notfalls auch ohne die Pizzerien und Schnellrestaurants aus, die europäischen Produzenten immerhin weitere Absätze für Käse und Schmelzkäse garantieren.(28) Solcher Bedarf erwächst nicht gleichsam organisch aus dem Wohlstand, sondern er wird aus einer Kombination von „harten“ Mitteln von Kapital und Politik sowie „weicheren“ kulturellen Prozessen generiert: von Investitionen, Technologietransfer, Exportsubventionen, Freihandelsabkommen; von Ernährungsberatung, Internet, Reisen und Bildern vom westlichen Lebensstil.

Nun lässt sich auch aus umwelt- und entwicklungspolitischen Perspektiven vieles gegen die Livestock Revolution einwenden, doch in diesem Text sollen einmal nicht die Folgen für den Menschen, sondern die für das Tier im Vordergrund stehen. Ein Fehlschluss muss dabei vermieden werden: Auch die traditionelle Tierhaltung war und ist für Tiere keine Erquickung.

Weder leben die Kühe auf Indiens Straßen „glücklich“, noch das Huhn, das auf einem afrikanischen Fahrradgepäckträger transportiert wird. Allerdings kommt der Frankenstein-Industrie – und dem dahinterstehenden Verbund aus ökonomischen Interessen und wissenschaftlichen Kompetenzen – das zweifelhafte Verdienst zu, das Grauen sowohl quantitativ wie qualitativ um ein Vielfaches gesteigert zu haben. Quantitativ, weil ohne die moderne Effizienzsteigerung ein solch hohes Niveau des Konsums von Fleisch, Milch und Eiern gar nicht zu erreichen wäre; und qualitativ, da wie oben beschrieben wirklich jede einzelne Lebensphase der involvierten Tiere zu einer Qual eigener Art umgewandelt wurde.

Nicht erst die Schlachtung, nicht erst der Transport sind qualvoll (die Dauer beider wird übrigens in den industriellen Prozessen zumeist wesentlich verlängert). Sondern auch die Reproduktion, der (meist vorenthaltene) Umgang mit dem Nachwuchs, ja sogar die Nahrungsaufnahme (die zwar dem wirtschaftlichen Ergebnis, nicht aber den subjektiven Bedürfnissen der Tiere entspricht); das Stehen und Liegen, das Bewegen – falls überhaupt möglich. Haben frühere Philosophen das Tier noch durch die unspektakuläre Freude charakterisiert gesehen, der Bedürfniserfüllung zu frönen und im eigenen Körper „zu Hause“ zu sein, hat die Intensivtierhaltung den Tieren das meiste dieses schlichten Soseins und Wohlgefühls nicht erst mit den Haltungsformen, sondern oft bereits mit der Züchtung genommen.

Vermutlich kann man es dem Kulturwesen Mensch nicht verdenken, dass es versucht ist, die widerspenstigen Elemente der Körperhaftigkeit auch anderer Spezies einem gewissen Schöpfungseifer zu unterwerfen. Das allein müsste nicht gleich katastrophal sein. Im Falle der weltweit operierenden Frankenstein-Industrie allerdings lassen sich die vielen Qualen und Grausamkeiten, die restlose Ausbeutung des Tiers für jeden ethisch nicht weiter qualifizierten Konsum und schließlich auch die Entfremdung des Menschen von anderen Spezies nicht schönreden. Hier hat der Mensch seine Intelligenz, seine Erfindungsgabe und besonders seine Fähigkeit, die Prinzipien des Lebens zu erforschen und zu variieren, denkbar schlecht genutzt.

Fußnoten:

(1) Weltweit werden jährlich circa 56 Milliarden Tiere verzehrt (vermutlich sind, wie bei den meisten Schätzungen dieser Art, nur Landwirbeltiere berücksichtigt). 67 Prozent des Geflügelfleisches, 50 Prozent der Eier und 42 Prozent des Schweinefleisches weltweit stammen aus der Massentierhaltung. Livestock’s Longs Shadow, FAO 2007.

(2) Siehe die Beiträge von Bernhard Hörning und Lars Schrader bei der Veranstaltung „Wenn die Zucht zur Qual wird“, am 23. Mai 2011: www.gruene-bundestag.de/cms/tierschutz/dok/384/384370.wenn_die_zucht_zur_qual_wird.html.

(3) Bernhard Hörning, „Auswirkungen der Zucht auf das Verhalten von Nutztieren“, Kassel (University Press) 2008.

(4) Michael Erhard, siehe Anmerkung 2.

(5) Auf seiner Firmenwebsite stellt Weltmarktführer Lohmann Tierzucht die Produktpalette vor: www.ltz.de/produkte.

(6) www.masterrind.com.

(7) Bernhard Hörning (Hochschule Eberswalde) in „Wenn die Zucht zur Qual wird“, siehe Anmerkung 2.

(8) Laut Informationen des Deutschen Tierschutzbundes werden bislang noch über ein Drittel aller Kühe in Anbindehaltung gehalten. www.tierschutzbund.de/milchkuehe.html. Auch wenn Anbindehaltung ein klarer Fall von nicht artgerechter Haltung ist, heißt das noch nicht, dass Boxenställe dem Bewegungsdrang des Tiers gerecht werden.

(9) Weltagrarbericht der Zukunftsstiftung Landwirtschaft e. V. www.weltagrarbericht.de/themen-des-weltagrarberichtes/fleisch.html und Christopher Delgado, „Rising Consumption of Meat and Milk in Developing Countries Has Created a New Food Revolution“, "Journal of Nutrition, Nr. 133, November 2003, S. 3907S–3910S.

(10) "Elite. Magazin für Milcherzeuger, 22. Juni 2011: www.elite-magazin.de/news/Milch-sprudelt-weltweit-ausser-in-der-EU-498741.html und "Agrarmärkte, Jahresheft 2007, Teilauszug „Eier und Schlachtgeflügel“ aus der Schriftenreihe der Bayerischen Landesanstalt für Landwirtschaft: www.lfl.bayern.de/iem/agrarmarktpolitik/29337/linkurl_0_5_0_0.pdf.

(11) „Livestock Production and the global environment: Consume less or produce better?“, Henning Steinfeld und Pierre Gerber in "Proceedings of the national Academy of Sciences in The United States, 8. Oktober 2010.

(12) Siehe die diversen im englischen Wikipedia angegebenen Studien: en.wikipedia.org/wiki/Vegetarianism_by_country#India.

(13) Laut Ministry of Food Processing Industries, Bericht 2007–2008. Siehe auch: Economic Research Service/USDA, „India’s Poultry Sector: Development and Prospects“, WRS-04-03. Laut dem Informationsdienst Maier +Vidorno GmbH (mv-group.com) 2008 hat der Verzehr von Geflügelfleisch einen Anteil von 50 Prozent am jährlich um 11 Prozent wachsenden Fleischkonsum. (14) Insbesondere die „einfache Frau“ übrigens gerät dabei oft ins Hintertreffen, siehe "Info Resources Focus, 1/2007: „The Livestock Revolution: An Opportunity for Poor Farmers?“

(15) Firmenrechtlich: PHW-Gruppe Lohmann & Co. AG und EW Group GmbH.

(16) Heutige Hühnerhybriden sind so gezüchtet, dass sich die gewünschten Eigenschaften in der nächsten Generation verlieren. Die Firmen besitzen also ein „eingebautes biologisches Patent“, Franciso Marí und Rudolf Buntzel, „Das globale Huhn. Hühnerbrust und Chicken Wings – Wer isst den Rest?“, Frankfurt am Main (Brandes & Apsel) 2007.

(17) Und zwar zwischen 0,134 und 0,25 Euro pro Tier laut Franciso Marí und Rudolf Buntzel, siehe Anmerkung 16.

(18) "Welt am Sonntag, 22. März 2009.

(19) "Lohmann Poultry News, 3/2010.

(20) www.sugunapoultry.com/farmers/parent_stock/breed.asp.

(21) Marí/Buntzel, siehe Anmerkung 16.

(22) "Lohmann Poultry News, 3/2010.

(23) Besonders unbeeinflussbare Faktoren wie Klima, Dürre und dadurch bedingte Futterknappheiten können zur Gefahr werden, "Info Resources Focus, 1/2007

(24) "Lohmann Poultry News, 3/2010.

(25) Aus einer Firmenveröffentlichung, zitiert nach Marí/Buntzel, siehe Anmerkung 16, S. 86.

(26) „2009 machte [Danone] 42 Prozent seines Umsatzes in Indien, Indonesien oder afrikanischen Ländern. Vor zehn Jahren waren es noch 6 Prozent.“ "Financial Times Deutschland, 2. Juli 2010.

(27) www.meine-milch.de/artikel/deutscher-milchmarkt-import-und-exportstrukturen; Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz: „Chancen und Herausforderungen für den deutschen Milchmarkt“, 2008.

© Le Monde diplomatique, Berlin vom 11.11.2011

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