EU-Ambitionen der Ukraine: Leider realitätsfern

Der ukrainische Präsident Selenski fordert die Aufnahme von EU-Beitrittsgesprächen. Doch die geopolitische Lage verschiebt sich nach Nahost.

Portrait von Wolodimir Selenskij

Fordert die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der EU: Ukraines Präsident Selenski

Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski tut das, was er, spätestens seit dem Beginn von Russlands Angriffskrieg gegen sein Land, perfekt beherrscht: Feuern aus allen Rohren – ob in persona oder mittels einer Videoschalte. Dieses Verhalten ist verständlich, da es ums Überleben, ja die Existenz der Ukraine überhaupt geht. Jetzt fordert er allen Ernstes die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der EU möglichst noch vor dem Jahreswechsel.

Selenski ist klug genug, um zu wissen, dass dieses Ansinnen mit dem Attribut „realitätsfern“ noch freundlich umschrieben ist. Keine Frage: Kyjiw hat sich auf den beschwerlichen Weg von Reformen gemacht. Der Versuch, effektiv gegen Korruption vorzugehen und parallel dazu das Justizsystem den neuen Erfordernissen anzupassen, ist da nur ein Beispiel unter vielen. Dieses Bemühen verdient Respekt und Anerkennung angesichts eines barbarischen Kriegs, der jeden Tag weitere Tote, Verletzte, Flüchtende sowie Zerstörung produziert und noch lange wüten kann.

Dennoch hat sich Brüssel Spielregeln gegeben, die es auch selbst einhalten muss. Und heißt es nicht stets von berufener Stelle, für die Ukraine werde es, auch im Vergleich zu anderen EU-Aspiranten, wie beispielsweise der Republik Moldau, keine Extrawurst geben? Doch davon abgesehen: Auch Beitrittsgespräche können dauern – Jahrzehnte, wenn es sein muss. Deshalb sollte allein die Aussicht auf einen Beitritt – und über mehr redet in Brüssel derzeit keiner – in ihrer Wirkung als Motivationshilfe für die Menschen in der Ukraine auch nicht überbewertet werden.

Selenskis jüngster Verstoß scheint anderen Erwägungen geschuldet zu sein. Es geht um Aufmerksamkeit und darum, den Krieg in der internationalen Öffentlichkeit präsent zu halten – jetzt, da die ganze Welt in den Nahen Osten blickt. Dahinter steht die Angst, Kyjiws Partner könnten in ihrem, vor allem auch militärischen, Engagement nachlassen. Das hingegen ist alles andere als realitätsfern – leider.

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Geboren 1964, ist seit 1995 Osteuropa-Redakteurin der taz und seit 2011 eine der beiden Chefs der Auslandsredaktion. Sie hat Slawistik und Politikwissenschaft in Hamburg, Paris und St. Petersburg sowie Medien und interkulturelle Kommunikation in Frankfurt/Oder und Sofia studiert. Sie schreibt hin und wieder für das Journal von amnesty international. Bislang meidet sie Facebook und Twitter und weiß auch warum.

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