Russisches Militär bleibt in Georgien: Symphonie im Ausnahmezustand

Waleri Gergijew, Stardirigent und Leiter der Londoner Symphoniker, gibt in der südossetischen Hauptstadt ein Solidaritätskonzert.

Mit Werken von Schostakowitsch und Tschaikowsky gab der ossetische Waleri Gergijew vor einem halbzerstörten Gebäude in Zchinwali ein Konzert. Bild: ap

ZCHINWALI taz "Den Lebenden und den Gefallenen - dir - Südossetien" steht auf dem Transparent, das vor den Sims des Parlaments in Zchinwali gespannt wurde. Der klassizistische Bau aus der Sowjetzeit war durch die Kriegshandlungen vor zwei Wochen auch beschädigt worden. Die Inschrift der Gedenkveranstaltung ist auf Russisch und Englisch. Der ossetische Stardirigent Waleri Gergijew war mit dem Mariinski Orchester aus Sankt Petersburg angereist und spielte für die Opfer in seiner kaukasischen Heimat. Rund tausend Südosseten kamen zu dem Konzert auf dem zentralen Platz. Zwei russische Schützenpanzer bewachten die Terrasse des Parlaments, wo das Orchester untergebracht war, und die Zuschauerbühne.

Das russische Militär hält auch nach Ablauf der Abzugsfrist Soldaten im georgischen Kerngebiet stationiert. Mehrere hundert Soldaten sollen die sogenannten Pufferzonen um die Georgien abtrünnig gewordenen Provinzen Abchasien und Südossetien nach dem für Freitag um Mitternacht angekündigten Ende des Truppenabzugs weiter kontrollieren. Das gab der Generalstab am Freitag in Moskau bekannt. Russland behalte sich zudem das Recht vor, die Zahl der Friedenssoldaten, die seit 1994 in Georgien stationiert sind, eigenhändig zu erhöhen. DPA

Gergijew ist ein internationaler Star, der zurzeit die Londoner Symphoniker dirigiert. Der Aggressor und an der Tragödie Schuldige sei das Regime Michail Saakaschwilis, sagte er auf Englisch für die Weltöffentlichkeit. Ein Schwall von Lügen über die Kriegsereignisse werde verbreitet, meinte der Maestro, der sich ansonsten aber um verbindliche Worte bemühte. Jedoch wiederholte auch er die Zahl von 2.000 Todesopfern der Kämpfe, die Moskau anfangs verbreitete, mittlerweile aber auf 131 korrigiert hat. Gergijew dirigierte die 7. Leningrader Symphonie, die Schostakowitsch während der Blockade Leningrads durch die Deutschen im 2. Weltkrieg komponierte. Auch Tschaikowskys tragisches Finale der 6. Symphonie zog den Bogen von Südossetien zu den schlimmsten Leidens- und Bewährungsproben in der jüngeren russischen Geschichte. Die Veranstaltung erinnerte an den Auftritt des russischen Cellisten Mstislaw Rostropowitsch, der nach den Massakern in Srebrenica für die Opfer spielte. Moskaus Regie des Kaukasusfeldzuges, meinen russische Militärbeobachter, halte sich eng an das Vorgehen der Nato im Kosovokrieg. Wie das Kosovo will auch Südossetien in die Unabhängigkeit entlassen werden.

Die Südosseten interessiert es nicht, wer die Dramaturgie entwirft. Viele verloren zum dritten Mal in den vergangenen 18 Jahren Haus, Hof und Angehörige. Dass der Angreifer aus Georgien stammt, steht für alle fest und lässt sich auch nicht widerlegen. "Wenn die Russen nicht gekommen wären, hätten sie uns alle umgebracht", sagt Raja Kolumbegowa. Die Rentnerin sitzt auf einem zerschlissenen Sofa, dem einzigen Möbelstück, das sie retten konnte, im Hof vor der Sommerküche. Von ihrem Haus im ehemaligen jüdischen Viertel ist nach den Artillerieangriffen nichts stehen geblieben. "Gott sei Dank", sagt sie, "wurden meine Kinder und Enkel nicht verletzt." Sie hat sie in das Bergdorf geschickt, aus dem sie vor 40 Jahren nach Zchinwali heiratete. Dort gebe es wenigstens Milch und etwas zu essen für die Enkel. In Zchinwali sind die meisten Geschäfte geschlossen. Nur ein paar Kioske mit Arzneimitteln haben geöffnet. Beruhigungsmittel verlangen die meisten. Die Strom-, Gas- und Wasserversorgung ist unterbrochen. Sie funktioniert auch in ruhigeren Zeiten nur einige Stunden am Tag. Südossetien ist arm und wurde von Moskau stiefmütterlich behandelt. Geld für Waffen und ein bisschen humanitäre Hilfe versackte in den Taschen des korrupten Regimes von Präsident Eduard Koikoty. Dessen Stunde ist gekommen. Vor der Gedenkfeier spricht der ehemalige Meisterringer und Türsteher auf dem Theaterplatz zum Volk, verspricht die Unabhängigkeit von Georgien und den Eintritt in die Russische Föderation in den nächsten Tagen. Er schilt den Westen, er wolle Russlands Aufstieg verhindern. Der Applaus kommt, aber er ist nicht überwältigend.

In der Stalinstraße ist Asiad Dschagajewa in das untere Geschoss des Hauses umgezogen. Ihr Wohn- und Schlafzimmer wurden verwüstet. Georgische Truppen hätten mehrere Granaten hineingeworfen. Die frühere Erzieherin harrte mit Schwester, Tochter, Nichten und Tante drei Tage im Keller aus. Dschagajewa erzählt von Kindern aus der Nachbarschaft, die verdurstet seien. Die Tankwagen mit Trinkwasser, die die Stadt in Friedenszeiten versorgen, sind während der Kämpfe nicht gekommen. Sie nennt den Krieg einen Genozid am ossetischen Volk und spricht von den "Faschisten aus Georgien", wie alle hier, die nur russische Fernsehprogramme empfangen. Und doch ist sie nicht hasserfüllt. Zwei georgische Familien wohnen nebenan. "Sie sind anständige und nette Leute", sagt sie. Die Tscharikaschwilis seien zu Kriegsbeginn geflohen. "Wir bewachen das Haus. Marodeure sind überall."

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