Essay von Judith Butler: An der israelischen Realität vorbei

Judith Butler wirft Israel „kolonialen Rassismus“ vor. Nur leider passt das Denk-Schema nicht auf das multiethnische Land.

Fridays-for-Future-Aktivisten halten einen Erdball in der Luft

Linke VordenkerInnen wie Butler und ihre Jünger? Fridays for Future in Lund, Schweden (Archivbild) Foto: Johan Nilsson / tt

Die Philosophin Judith Butler bemüht sich, die moralische Empörung über den Terrorangriff der Hamas am 7. Oktober in die Bahnen eines Diskurses der „Geschichte der Gewalt“ zu lenken, wobei sie – entgegen ihrem eigenen Anspruch – ein sehr verzerrtes Bild der Realität zeichnet. Butler verurteilt in ihrem Essay im Freitag zwar den Angriff der Hamas, möchte ihn aber als Teil einer „Geschichte der Gewalt“ verstanden wissen. Ihre Aufforderung, sich in die Geschichtsbücher zu vertiefen, wird jedoch dadurch konterkariert, dass sie an „Schrecken der letzten siebzig Jahre“ ausschließlich palästinensisches Leid beschreibt.

Kein Wort von den Angriffskriegen, die Israels arabische Nachbarländer einen Tag nach der Gründung des jüdischen Staates oder 25 Jahre später an Yom Kippur, dem höchsten jüdischen Feiertag, vom Zaun brachen, oder von den zahllosen Terroranschlägen auf die israelische Zivilbevölkerung in den vergangenen Jahrzehnten. Für Butler ist Israel nur ein Staat, der „in Gewalt gegründet wurde“. Dabei war der Zionismus, also die Idee eines eigenen jüdischen Staates, im Kern eine Befreiungsbewegung des jüdischen Volkes gegen den Antisemitismus, den es in der Diaspora, vor allem in Europa, erfahren musste.

Dass rund die Hälfte der jüdischen Bevölkerung Israels ihre Wurzeln in Nordafrika und dem Nahen Osten hat, scheint Butler in ihrem Vorwurf des „kolonialen Rassismus“ nicht nachdenklich zu machen. Während Butler wiederholt antipalästinensischen Rassismus anprangert, spricht sie gleichzeitig nur von „dem böswilligen Vorwurf des Antisemitismus“ im Zusammenhang mit „Israelkritik“-Kritik – eine mehr als bedenkliche Leerstelle angesichts des weltweit grassierenden und durch die Ereignisse in Nahost sprunghaft angestiegenen Antisemitismus.

Butler ist unbestreitbar eine bedeutende zeitgenössische Philosophin, aber ihr Essay über den Terror der Hamas (den sie nicht als solchen benennt) lässt an das lateinische Sprichwort „Si tacuisses, philosophus mansisses“ (Wenn du geschwiegen hättest, wärest du ein Philosoph geblieben) denken.

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