Aus von Vice Deutschland: Spermatests, LSD und Investigatives

„Vice Deutschland“ prägte mit Drogen und Sex den Onlinejournalismus, im März wird das Magazin eingestellt. Ein Nachruf.

Ein umgefallener Gartengrill

Der brennende Grill beim „Vice“-Sommerfest war das Exzessivste, das unser Autor fast miterlebt hat Foto: Johan Peh/plainpicture

Einmal flog ein brennender Grill in die Spree. Er hatte wohl Feuer gefangen oder so ähnlich, irgendwann im Laufe eines ziemlich normalen Sommerfests bei Vice, das weit entfernt von einer Drogenorgie war, und einer der leitenden Redakteure wusste sich nicht mehr anders zu helfen. Diese Geschichte, die ich nur gehört hatte, weil ich schon etwas früher abgezogen war, ist wahrscheinlich die einzige wirklich exzessive Story aus meiner kurzen Zeit in der Redaktion bei Vice.

Und dass es bei Vice, diesem irgendwie punkigen, immer unangepassten Onlinemedium, ziemlich normal zuging und am Montag nach der Party alle ausgeschlafen bei der Redaktionskonferenz in einem spießigen Glaskasten auftauchten, widerspricht natürlich der Außenwirkung der Marke. Auf dessen Startseite sind statt Kategorien wie Feuilleton oder Wirtschaft die Reiter „Tech“, „Menschen“, „Drogen“, „Popkultur“ und „Sex“ zu finden. Vor allem für zwei Themen steht Vice, dessen deutscher Ableger 2005 gegründet wurde und nun im März dieses Jahres endgültig eingestellt werden soll, in der öffentlichen Wahrnehmung: Drogen und Sex.

Das hatte auch mit Headlines zu tun, über die sich Leute furchtbar aufregen konnten. Wahrscheinlich auch deswegen, weil sie am Ende aus Neugier trotzdem immer wieder auf die Artikel klickten. Denn Vice-Headlines waren ein eigenes Genre und Alleinstellungsmerkmal. Einige Highlights:

„Ich habe ein dreigängiges Katzenfutter-Dinner gegessen, damit ihr es nicht müsst.“

„Das Friedenslied von Xavier Naidoo ist so dumm, dass man fast Lust auf Krieg bekommt.“

„Der Sperma-Geschmackstest – Wie jeder, der schon mal einen Schwanz im Mund hatte, weiß, schmeckt so manches Sperma besser als das andere.“

Vicesierung deutschsprachiger Medien

Das Besondere bei Vice war dabei immer: Hinter Headlines verbarg sich keine Sackgasse, sie waren kein Clickbait. Wer auf den Sperma-Geschmackstest in der Überschrift klickte, der bekam auch einen ziemlich detaillierten Sperma-Geschmackstest im Artikel geliefert.

Doch gerade jetzt, kurz vor der Legalisierung von Cannabis in Deutschland, die Vice in den letzten Jahren sehr fundiert begleitete, schreibt der aktuelle Chefredakteur Tim Geyer in einem nüchternen Statement: „Vice Deutschland schließt Ende März nach 18 Jahren. Danach wird es keine deutschsprachigen Inhalte mehr geben. Schade. Kein anderes deutsches Medium hat so konsequent gezeigt, wie guter Journalismus für junge Menschen geht. Wir hätten gerne für euch weitergemacht. Sorry, Leute.“

Daraus spricht Wehmut, klar, einige deuteten die Worte auch als Arroganz. Aber vor allem klingt es nach: Resignation. Was also ist passiert, wollen junge Leute keinen Journalismus mehr?

Die Wahrheit ist, dass das Ende von Vice in Deutschland auch mit einer Art Vicesierung deutschsprachiger Medien zu tun hat. Während Vice Anfang der zehner Jahre noch mit Dokus auftrumpfte, die sich sonst niemand traute, Re­por­te­r*in­nen Tier­schutz­ak­ti­vis­t*in­nen und LSD-Liebhaber*innen begleiten ließ und eine Video-Serie über Drogen für das ZDF produzierte, bilden Kanäle des öffentlich-rechtlichen Jugendangebots „funk“ wie „Y-Kollekiv“ oder „Strg_F“ heute solche Themen ab. Über Drogen wird mittlerweile überall geschrieben und Texte über polyamore Beziehungen finden sich auch in konservativen Tageszeitungen. Was sich Vice von Anfang an getraut hat, trauen sich heute fast alle.

Das hängt auch damit zusammen, dass viele Journalist*innen, die bei Vice ihre journalistische Karriere begonnen haben, heute bei Öffentlich-Rechtlichen, dem Spiegel und Co. arbeiten und die redaktionelle Ausrichtung mitgestalten. Warum also noch Vice lesen, wenn’s die Vice-Themen auch woanders gibt?

Die Plattform bot auch einen Entfaltungsraum für junge Jour­na­lis­t*in­nen, der fehlen wird

Dass sich die thematische Ausrichtung von Vice aber nie nur auf Drogen und Sex beschränkte und dass die deutsche Redaktion in den letzten Jahren einige wichtige Investigativ-Recherchen veröffentlichte, ging oft unter.

Große Vice-Recherchen zur Kinderpornoplattform Elysium, zu einem angesehenen HIV-Arzt, der seine Machtstellung ausgenutzt und Pa­ti­en­t*in­nen missbraucht haben soll, oder CDU-Verstrickungen mit der aserbaidschanischen Regierung bekamen teils weniger Aufmerksamkeit als Sperma-Geschmackstests. Letztlich ist das aber kein reines Vice-Problem. Bei Zeit Online lesen Menschen tendenziell auch eher einen „Kontoauszug“-Artikel, in denen Reiche darüber sprechen, wie sie noch reicher werden, als eine Recherche zu illegalen Pushbacks an den EU-Außengrenzen.

Ich habe für Vice nie über Drogen oder Sex geschrieben. Aber als mein Kollege Paul Schwenn und ich uns in das ausbeuterische und von Verschwörungserzählungen geprägte Coachingprogramm „Alpha Mentoring“ des Rappers Kollegah einschleusen wollten, bekamen wir von der Chefredaktion freie Hand. Wir tauchten einen Monat lang ab und recherchierten, und obwohl niemand so richtig wusste, was wir gerade machten, bekamen wir alle Freiheiten – und die nötige rechtliche Unterstützung, als nach Veröffentlichung unzählige Abmahnungen eintrudelten.

Musik- und Techjournalismus auf Augenhöhe

Vice verteidigte Recherchen vor Gericht, klagte zusammen mit FragDenStaat Informationen ein und ließ dabei junge Jour­na­lis­t*in­nen recherchieren, die bei anderen Medien mit ihren Ideen keinen Raum bekommen hätten. Die Resultate sprachen für sich. Die Plattform stand also nicht nur für einen unangepassten Journalismus für junge Leute, sondern bot auch einen Entfaltungsraum für junge Journalist*innen, der fehlen wird.

Das Problem ist nur: Solche Recherchen kosteten viel Geld und davon hatte Vice Deutschland immer weniger. Zuerst wurden Outlets wie Noisey und Motherboard, die unelitären Musik- und Techjournalismus auf Augenhöhe boten, unter der Dachmarke gebündelt. Die Redaktion schrumpfte und es war immer weniger Raum für große Recherchen.

Im letzten Jahr meldete der US-amerikanische Mutterkonzern Insolvenz an, das redaktionelle Team von Vice Deutschland bestand nur noch aus etwas mehr als einer Handvoll Mitarbeiter*innen. Viel mehr Raum nahm die hauseigene Agentur Virtue ein, deren bezahlte Inhalte penetrant in Timelines auftauchten und ein schlechtes Bild auf den ­Vice-Journalismus warfen. Je besser der Journalismus von Vice wurde, desto weniger wollte man in den USA Geld dafür lockermachen, so schien es. Daran ist das Medium hierzulande letztlich zugrunde gegangen. Es bleibt nur zu hoffen, dass der Geist von Vice noch lange durch deutsche Redaktionen spukt und angepasste Spießer provoziert.

Hinweis: Johann Voigt war zwischen 2015 und 2021 als Autor und zwischenzeitlich als redaktioneller Mitarbeiter für Vice tätig

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.