Ausladung von Nancy Fraser: Rost an der liberalen Demokratie

Absagen im Mehrfach-Pack: Die neue Cancel Culture mit Schwerpunkt gegen linke Jüdinnen ist selbstbeschädigend.

Eine Frau steht an einer Mauer.

Nancy Fraser ist Philosophin und eine der bekanntesten US-amerikanischen Feministinnen Foto: Stephan Pramme

Die US-Philosophin Nancy Fraser hat im Oktober 2023 den offenen Brief „Philosophy for Palestine“ unterschrieben. Dieser Text verkleinert den Terror der Hamas und malt die Schuld Israels umso größer. Er war einseitig. Die Uni Köln hat nun deshalb eine Gastprofessur von Fraser abgesagt. Man muss kein Anhänger des „Philosophy for Palestine“-Textes sein, um das mehr als ungut zu finden. Der offene Diskurs in Kunst und Wissenschaft wird derzeit in Deutschland administrativ eingeschränkt. Der Fall Fraser ist nicht der erste und wird wohl nicht der letzte sein.

Der afrikanische Starphilosph Achille Mbembe wurde mit völlig überspitzten Antisemitismusbeschuldigungen ausgegrenzt. Eine Ausstellung von Candice Breitz wurde abgesagt, die Künstlerin als antisemitisch verleumdet. Die US-Musikerin Laurie Anderson verzichtete dankend auf eine Gastprofessur in Essen, nachdem ein Blogger scheinbar Unbotmäßiges aus dem Netz gekramt hatte. Bremen zog sich von einer Preisverleihung an Masha Gessen zurück, weil sie den Gazakrieg mit NS-Verbrechen verglichen hatte. Diese Reihe ist noch viel länger. Wenn etwas aussieht wie ein Wald und riecht wie ein Wald, dann ist es wahrscheinlicher einer. In diesem Fall: ein deutscher Wald.

Auffällig ist das strahlend reine Gewissen jener Deutschen, die sich als heldenmütige Verteidiger der Errungenschaften der bundesdeutschen Erinnerungspolitik inszenieren. Faktisch trifft diese Anti-Anti­semitismus-Cancel-Culture auffällig oft linke Jüdinnen wie Breitz, Gessen oder Fraser. Genau jene Medien, die sonst heftig vor links-woker Cancel-Culture warnen, winken diese hier lässig durch. Jürgen Kaube stellt in der FAZ treuherzig fest, mit einer „Einschränkung der Meinungsfreiheit“ habe der Fall Fraser gar nichts zu tun.

Verfestigte Verbotspraxis

Auch diese rhetorischen Nebelkerzen können nicht verhüllen, dass sich hier rasant eine Verbotspraxis verfestigt. Wie viele Ideologien wird diese irgendwann an eigenen Widersprüchen scheitern. Jede scharfe Kritik an der teilweise rechtsextremen Regierung in Jerusalem und dem Besatzungsregime zu sanktionieren beschädigt die Meinungsfreiheit und frisst sich wie Rost in einen Kern der liberalen Demokratie.

Die New York Times hat den Preis dieser Praxis taxiert und in der Berliner Kulturszene ein „Klima der Angst und der Schuldzuweisungen“ entdeckt. Berlin sei als geistig offener Ort ernsthaft gefährdet. Das ist mehr als Sorge um Standortpolitik. Diese per Staatsräson abgestützte Verbotspraxis ist auch eine Selbstbeschädigung. Das bundesdeutsche Selbstverständnis, betont liberal und betont weltoffen zu sein, war auch eine Reaktion auf Hybris und Abschottung des NS-Regimes. Gilt das nicht mehr?

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Stefan Reinecke arbeitet im Parlamentsbüro der taz mit den Schwerpunkten SPD und Linkspartei.

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