BesetzerInnen der Stillen Straße: Wut altert nicht

Die SeniorInnen des Fördervereins Stille Straße 10 e.V. beweisen mit dem Protest, ihren Treffpunkt zu halten, ungehörig langen Atem.

Das sind die guten Unruhestifter, die dem Klischee von HausbesetzerInnen partout nicht folgen wollen. Bild: Anja Weber

Das Haus, das im vorigen Sommer unter dem medienwirksamen Schlagwort „Rentner-Occupy“ in die Schlagzeilen geriet, weil es von wütenden Senioren besetzt wurde, steht in der Stillen Straße 10 in Berlins Stadtteil Pankow. Hier, am Schlosspark Schönhausen, im ehemals gesperrten Regierungsviertel der DDR-Nomenklatura, fällt die graubraun verputzte, nicht mehr ganz so glamouröse Villa aus den dreißiger Jahren inmitten der sanierten Villen und modern-minimalistischen Bungalows auf – kein Kindertrampolin und kein Bobbycar im Garten, keine teuren Autos vor der Einfahrt, wahrscheinlich auch keine ökologische Holzbauweise.

Die Senioren sind auch ein Jahr nach der Besetzung ihres Klubhauses so wütend wie ehedem. Der harte Kern, der stellvertretend für die anderen Mitglieder steht und an diesem schüchtern-sommerlichen Vormittag zusammengekommen ist, um die Geschichte ihres Aufruhrs zu erzählen, sind fünf Frauen und ein Mann, was in etwa der demografischen Realität im Klubhaus entspricht: Die meisten älteren Menschen seien alleinstehende Frauen, erklärt Doris Syrbe, 72, umtriebiges Vorstandsmitglied und mit resoluter Stimme die Sprecherin des Fördervereins Stille Straße 10 e.V., die früher als Imkerin, später als Materialwirtschaftlerin gearbeitet hatte.

Peter Klotsche, 71, grinst stolz, einziger Mann hier zu sein. Er ist die männliche Ausnahme – und das erzählt er gern. Der ehemalige Schlosser ist noch immer viel unterwegs, um mal hier, mal da Arbeiten zu erledigen: „Schließlich haben wir eine große Familie, da braucht es immer wieder mal Geschenke.“ Auch seine Frau sitzt am Tisch, Brigitte Klotsche, 73, zusammen mit ihrem Mann ist sie ebenfalls im Vorstand, zuständig für Haus und Hof, etwa für die Einsatzpläne. Links und rechts von ihnen sitzen außerdem Margret Pollak, 67, ehemalige OP-Schwester, Elli Pomerenke, 74, einst Ökonomin, heute Finanzchefin des Vereins, und Ingrid Pilz, 76, ehemalige Buchhalterin.

Mit unterschiedlich lauten Stimmen haben sie mit ihrem Förderverein erreicht, dass sie das Haus bis Ende dieses Jahres ehrenamtlich betreiben dürfen. Doch wie es danach weitergeht bleibt offen. Wie aber kam es zu ihrem Projekt, zu ihrem zornigen Engagement? So geben sie zu Protokoll: Vor vierzehn Jahren stellte der Bezirk das Haus den Senioren als sogenannte Begegnungsstätte zur Verfügung. Unterdessen ist es ihnen, die dieses Haus regelmäßig besuchen, tatsächlich zu einem Treffpunkt geworden, in dem über die Jahre echte Gemeinschaft wuchs.

Erfolgreich gegen die Einsamkeit

Erfolgreiche Politik könnte man das nennen: Fremde Menschen sind zusammengerückt, geben einander Halt, fragen nach, wo sonst niemand mehr das tut. Man geht lieber ins Klubhaus statt zum Arzt. Denn das sei das größte Problem beim Älterwerden, erklärt Syrbe, „dass alte Menschen durch ihre Einsamkeit seelisch krank werden und nicht selten mit dem Doktor statt mit Freunden reden.“

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Seither treffen sich hier etwa dreihundert Menschen des Bezirks im– wenn man so will – Unruhestand. Sie sind zwischen 67 und 97 Jahren alt, man kann sie als rüstig bezeichnen, „lebenslustig“ passt besser. Sie wollen nicht alleine zu Hause sitzen und sich auf ihre Gebrechen konzentrieren, sondern möglichst selbstständig alt werden. In der Stillen Straße spielen sie gemeinsam Schach oder Bridge, betreiben Gymnastik, lernen Englisch oder trinken zusammen Kaffee.

Das Haus wirkt größer, als es ist. In der ersten Etage gibt es drei kleine Klubzimmer für die diversen Gruppen, die sich gebildet haben. Im Keller befindet sich ein Sportraum. Das Haus ist zweckmäßig eingerichtet, eine Tasse Filterkaffee kostet 50 Cent, auf den Tischen stehen liebevoll arrangierte Plastikblumen, auf der Toilette zwei Kakteen. Wer denkt, ein Seniorentreffpunkt sei ein Vergnügungspark, den korrigiert spätestens das Faltblatt, das das freizeitliche, gleichwohl straff organisierte Juni-Programm mit Lesungen, PC-Kurs und Malgruppe vorstellt.

Ihre Leben haben sie bis 1989 in der DDR verbracht, viele von ihnen sind durch die Wende früher als gewollt zu Alten geworden. Die Rente ist bei den meisten knapp, trotzdem gab es bislang keinen Grund, sich zu beklagen. Bis vor einem Jahr die Nachricht kam, das Klubhaus werde aus Spargründen geschlossen. Mit dieser Nachricht kam die Wut, die an diesem Vormittag noch immer zu spüren ist. Ein knallig bunt besprayter Regenschirm mit dem handgeschriebenen Slogan „Empört euch“ erzählt davon.

Der Bezirk könne die jährlichen Unterhaltskosten von 60.000 Euro nicht mehr aufbringen, so die Begründung, eine Sanierung würde zu viel kosten. „Gelder sind ja nie vorhanden, so viel wissen wir auch“, kommentiert Brigitte Klotsche diese Begründung nicht ohne Sarkasmus und bringt damit die pragmatische Haltung der Senioren auf den Punkt: aus dem wenigen, das es gibt, möglichst viel machen.

Ihr Protest begann mit erfolglosen Gesprächseinladungen an Politiker im Frühling und mündete in eine viermonatige Hausbesetzung über den ganzen Sommer. An die Besetzung erinnern drei noch immer bezogene, keineswegs geriatrietaugliche Matratzen im Schachzimmer. Als ob sie jederzeit wieder hervorgenommen werden müssten. Die Forderung damals war klar und deutlich: „Entweder trägt uns die Polizei raus, oder es heißt: ‚Sie kriegen ein neues Haus.‘ Da sind wir auch mit einverstanden. Es ist nur: Wir wollen alle zusammenbleiben.“

Durchhaltevermögen statt Abenteuerlust

Für eine Hausbesetzung brauche es ein klares Ziel, erklärt Ingrid Pilz, „und Durchhaltevermögen, denn man muss Verantwortung übernehmen. Aus reiner Abenteuerlust – das funktioniert nicht.“ Die Dame mit rosafarbener Sommerbluse und sorgfältig zurechtgemachter Frisur, die jedes Klischee von einer Hausbesetzerin Lügen straft, spricht in bedächtig ausgewählten Worten. Das Ziel, erläutert sie, sei, die gewachsene Gemeinschaft zu erhalten. Und dieses Ziel ist noch nicht erreicht.

Wohl haben sie mit der Besetzung internationale Aufmerksamkeit (sogar iranische und australische Medien reisten in die Stille Straße) bekommen, einen Jahresvertrag in Kooperation mit der „Volkssolidarität“ – eine Art Arbeiterwohlfahrt mit DDR-Herkunft, die die Wende überlebt hat – und Gespräche mit dem Bezirk über einen Erbpachtvertrag. Doch die Zukunft des Hauses und damit auch der künftigen Seniorengenerationen bleibt ungewiss. Das wollen die Senioren nicht hinnehmen: „In den nächsten Jahren werden 32.000 Senioren in Pankow aus dem Arbeitsprozess kommen. Wo gehen die hin?“, fragt Syrbe schroff.

Peter Klotsche ergänzt: „Es werden immer mehr Rentner, die wollen ja nicht zu Hause vor dem Fernseher sitzen.“ Die anderen lachen über diese Vorstellung. Denn letztlich geht es nicht nur darum, dass die Stille Straße weiterhin im Pankower Anzeiger als Begegnungsstätte aufgeführt ist. Sondern darum, wie Politiker und Gesellschaft mit alten Menschen, die wohlgemerkt noch nicht pflegebedürftig sind, umspringen. Es geht darum, dass alte Menschen nicht wegrationalisiert und nur noch als kaufkräftige Zielgruppe gesehen werden wollen.

Gina Bucher