Nominierte 2005: Helga Dieter: Wenn Feinde Freunde werden

Helga Dieter ermöglicht Kindern "Ferien vom Krieg".

Bild: Andrea Baumgartl

„Wir sind so viele!“ Helga Dieter betont mehrfach, dass sie allein gar nichts erreichen würde. Die 61-Jährige managt ein gigantisches Projekt des Komitees für Grundrechte und Demokratie. „Ferien vom Krieg“ organisiert seit 1994 Ferienfreizeiten für Kinder und Jugendliche aus den Kriegs- und Krisengebieten des Balkans. Da, wo die Eltern Feinde sind oder waren, sollen die Kinder Freunde werden und in friedlicher Atmosphäre Gemeinsamkeiten entdecken.

Betreuer und Pädagogen werden vor Ort engagiert, sie müssen mindestens zweisprachig sein. Die Ferienkinder werden von den heimischen Hilfsorganisationen vermittelt. In zwölf Jahren waren es rund 19.000 in sieben Urlaubsorten. Das kostet viel Geld, obwohl fast alle Mitarbeiter ehrenamtlich arbeiten. Seit 2002 kommen außerdem junge Menschen aus Israel und Palästina in Deutschland zusammen, leben unter einem Dach, diskutieren in Workshops und Seminaren. Das, sagt Helga Dieter, wäre in deren Heimat unmöglich.

Auch für die Treffen in Deutschland brauchen sie Mut, denn die Feindbilder sind auf beiden Seiten manifest. Als in diesem Sommer eine Gruppe aus Westjordanland wegen „Kollaboration mit dem Feind“ eingeschüchtert und bedroht wurde, musste Helga Dieter ihre Schutzbefohlenen vor zu viel Risikobereitschaft bewahren: „Wir wollen keine Märtyrer für den Frieden.“ Seit 1997 ist Helga Dieter die Koordinatorin. „Nicht dass ich nicht delegieren könnte“, sagt sie, aber am Ende laufen die Fäden doch immer wieder bei ihr zusammen.

Utopie einer friedlichen Welt

Wohl weil sie pragmatisch und professionell entscheidet, rät, vermittelt und sich manchmal auch vor zwar unliebsamen, aber notwendigen Wahrheiten nicht drückt. Die Emotionen versteckt Helga Dieter in ihren Augenwinkeln, in der Hinwendung ihrer Körpersprache, der Konzentration auf ihr Gegenüber. Nur ganz am Rande redet sie auch ein wenig über sich selbst. Sie hat in Frankfurt am Main studiert und demonstriert, sich als Hauptschullehrerin auch gegenüber ruppigen Teenagern durchgesetzt, eine Supervisionsausbildung gemacht. 

Ihre „konkrete Utopie einer friedlichen Welt“ braucht viele kleine und große Schritte. In Helga Dieters Wohnung am Ufer der Nidda im Frankfurter Stadtteil Rödelheim sind die Koffer eigentlich nie ganz ausgepackt, schrillen die Telefone in der Sommersaison manchmal im Minutentakt. Geld muss beschafft, verwaltet, abgerechnet werden. Visa müssen besorgt, Ferienprogramme entwickelt werden.

Helga Dieter erklärt, dass „Ferien vom Krieg“ keine Therapien anbietet und nicht die Partei der Opfer ergreift, sondern sich ausdrücklich für den Frieden einsetzt und Vorurteile abbauen will: „Auch die Opfer können unter anderen Umständen Täter sein.“ Die Kinder lernen eher spielerisch, aufeinander zuzugehen, einander zuzuhören. Sie erzählen ihre Leidensgeschichten und erfahren, dass „ihre Feinde oft spiegelbildlich dieselbe Lebensgeschichte haben“. 150 Berichte sind inzwischen als biografische Interviews dokumentiert. Das Projekt sei, sagt Helga Dieter, eines „der Empathie und des Mitleidens“. Für sich selbst hält sie es mit Bertolt Brecht: „Wehe dem Land, das Helden nötig hat!“

Heide Platen